Roger Behrens & Kerstin Stakemeier
Überarbeitete Transkription des Vortragsgesprächs vom 13. Mai 2010
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass der Expressionismus die erste Avantgarde-Strömung war, und das gilt im Positiven wie im Negativen. In ihm schlossen sich zum ersten Mal Künstler_innen zu einer Bewegung zusammen, die sich sowohl gegen die bürgerliche als auch gegen die imperiale Kunst richtete. Das bekannteste Beispiel ist der Blaue Reiter, jene Gruppe, an der unter anderem Wassily Kandinsky und Franz Marc beteiligt waren, die den Begriff der Avantgarde, neben dem der Phalanx (das war der Titel der vom Blauen Reiter herausgegebenen Zeitschrift), in die Kunst eingeführt haben: tatsächlich als militärischen Begriff, nämlich im Sinne der Streitkraft gegen die bürgerliche Kunst. Es war die erste Bewegung, die einen konsequenten Anti-Naturalismus vertrat, in dem sie der Farbe an sich einen Stellenwert gab und jedes Konzept von Abbildung ablehnte. In dieser Hinsicht ist der Expressionismus in Abgrenzung zu seinem historischen Gegner, dem Impressionismus, zu begreifen: während der Impressionismus eine Öffnung der Kunst hin zur Wahrnehmung des Einzelnen forcierte, vertritt der Expressionismus insofern einen anderen Subjektivismus, als dass er auf den Ausdruck der Person zielte. Eine in diesem Zusammenhang äußerst wichtige Figur ist Herwarth Walden, der 1912 in Berlin die Galerie ,Der Sturm‘ gründete. Diese Galerie existierte bis 1928 und taucht an einigen zentralen Punkten immer wieder in der Kunstgeschichte dieser Zeit auf: hier waren nicht nur die wichtigsten expressionistischen Ausstellungen zu sehen, sondern auch die einzigen größeren Ausstellungen des russischen Konstruktivismus in Deutschland, außerdem war die Galerie 1921 der Austragungsort der Großen Dada-Kunstmesse. Zwischen gegensätzlichen Positionen wie Expressionismus und Dadaismus manövrierte Walden in deren Gemeinsamkeiten – der Ablehnung der ererbten repräsentativen Rolle der Künste, die noch aus dem Kaiserreich herüberragte.
Trotz ihrer dezidiert antibürgerlichen und antikapitalistischen Äußerungen, organisierten sich die expressionistischen Künstler jedoch nicht in erster Linie politisch. So gab es zwar Figuren wie Ludwig Meidner, die in der SPD aktiv waren. Aber in erster Linie ging es hier nicht um politische Organisierung der Kunst selbst, wie man sie etwa aus dem russischen Konstruktivismus der 1910er Jahre kennt – die Organisierung der expressionistischen Künstler war immer eine Organisierung von Künstlern, also eine Künstlergruppenorganisierung. Hier zeigt sich auch ein erster entscheidender Unterschied zum zeitgleich in die Diskussion geratenden Realismus, der als künstlerische Richtung – angefangen bei Gustave Courbet – von der Frage der politischen Organisierung ausging, und eben nicht wie der Expressionismus von der Frage der künstlerischen Stilbildung. Entscheidend ist hier letztlich die Frage: Richtet sich die künstlerische Organisierung aus der Kunst selbst heraus auf eine gesellschaftlich-antibürgerliche Dimension, oder ist die Dimension auf eine rein künstlerische Ebene beschränkt beziehungsweise wird sie in dieser lediglich repräsentiert?
Parallel zur Gründung der Galerie ,Der Sturm‘ entstand 1912 Franz Pfemferts Zeitung ,Die Aktion‘, eine der wichtigsten Publikationsreihen zum Expressionismus. Zuzustimmen ist Joan Weinsteins Befund, dass die revolutionäre Phase des Expressionismus vor allem vor dem ersten Weltkrieg stattfand, also in einem Moment, in dem alle Beteiligten im akademischen Sinne künstlerisch schlichtweg unbedeutend und ohne Einfluss waren. Es handelte sich um eine absolute Outsider-Organisierung – im Wilhelminischen Kaiserreich war mit Nacktheit und Exotismus kein Fußbreit zu gewinnen. Die Organisierung schloss sich zu diesem Zeitpunkt in erster Line gegen den Impressionismus zusammen, der damals vorherrschend war, und äußerte sich in diesem künstlerischen wie auch politischen Zusammenhang durchaus auch politisch. Im Fall der Münchner Expressionist_innen wird allerdings auch die Ambivalenz dieser politischen Dimension deutlich: so ist etwa Franz Marc für seine anarchistische Kriegsbegeisterung bekannt geworden. Nach dem militärischen Scheitern der deutschen Offensive 1916 wurde der Expressionismus dann offiziell und auch von Regierungsseite als neue nationale Kunst gegen die internationale Kunst vertreten und damit gesellschaftlich gestärkt. Damit hatte der Expressionismus bereits sehr früh seinen Outsider-Status verloren, und da dieser ohnehin nie aus einer politischen Haltung gewonnen worden war, sondern diese nur in höchst wechselndem Masse mit sich führte, stand seiner expliziten Umdeutung als deutsch-nationale Kunst gegen andere, internationale Strömungen der Kunst wenig im Wege: gegen den Kubismus, gegen den Impressionismus, also Strömungen, die zumeist in Frankreich beheimatet waren. Inwiefern diese Einschränkung des Expressionismus auf seine nationale Funktion dem Expressionismus letztlich gerecht wird, ist eine legitime Frage, allerdings haben viele expressionistische Künstler_innen diese politischen Anpassungsstrategien in der Folgezeit selbst eingesetzt, um in den Akademien oder im Kunstmarkt Fuß fassen zu können. Es ging darum, als Künstler_in Raum zu gewinnen, und nicht darum, wie etwa im Fall des russischen Konstruktivismus, die Kunst abzuschaffen, aufzulösen und darin ein neues gesellschaftliches Verständnis künstlerischer wie nicht künstlerischer Produktion erreichen zu können.
Weil nach dem Ende des ersten Weltkrieges auch die kaiserliche Zensur aufhörte, gab es nach 1916 eine Schwemme von künstlerischen Publikationen und Pamphleten – es gab nun die Möglichkeit, jenseits des Kaiserreichs zu publizieren. ,Die Aktion‘ positionierte sich jetzt eindeutig politisch, in dem sie gleich mehrere Ausgaben zu Marx und Luxemburg herausgab. Mit 1918 setzt dann auch Dada in Berlin ein: Richard Hülsenbeck begann hier seine „Karriere“ damit, den Expressionismus als Ausdruck eines eskapistischen Bürgertums zu attackieren – eine Kritik, die später auch in der Expressionismusdebatte wieder auftaucht, aber auch Adornos Kritik am Expressionismus bestimmt: der Expressionismus ist Individualismus und Eskapismus in dem Sinne, dass er das Bürgertum nicht in der politischen Organisierung bekämpft, sondern der Konfrontation ausweicht und demgegenüber eine eigene Welt aufbaut, eine Angriffsphalanx nur in der Kunst.
Was damals außerdem im Zentrum der Diskussion stand und heute einen viel problematischeren Beigeschmack hat, war die „Spiritualisierung der Bewegung“. Dies ist eine Frage, die später zum Beispiel auch bei der Gründung des Bauhaus in Weimar 1919 wieder auftaucht: Gibt es etwas Geistiges in der Kunst, das der Härte der politischen Organisierung gerade nicht entspricht? Solche spiritualistische Sinnfrage spiegelt sich in der Forderung zahlreicher künstlerischer Gruppierungen dieser Zeit nach einer größeren Autonomie der Kunst. Freilich ist das zu kritisieren, weil es eine Depolitisierung künstlerischer Praxis bedeutete, allerdings muss man sich auch vor Augen führen, dass diese Forderung unmittelbar nach dem Ende des Kaiserreiches postuliert wurde: zu einem Zeitpunkt eine Autonomie der Kunst zu fordern, an dem die Zensur gerade erst aufgehört hat, hat natürlich einen anderen Stellenwert, als etwa heute, in Zeiten eines vollends entwickelten Kunstmarktes.
Ich will abschließend auf zwei Gruppen eingehen, an denen das Schwanken des Expressionismus vor und nach dem ersten Weltkrieg besonders deutlich wird: zum einen auf den „Arbeitsrat für Kunst“ und zum anderen auf die „Novembergruppe“. Beide sind heute relativ bekannt und beliebt – nicht zuletzt deshalb, weil Käthe Kollwitz in beiden Gruppen aktiv war, die sich ja noch immer großer, auch nationaler Beliebtheit erfreut. Der Arbeitsrat für Kunst hat im Januar 1918 seine Selbstbegründungsproklamation in sämtlichen linkspolitischen Magazinen veröffentlicht – nicht in Kunstmagazinen, sondern in den Zeitungen der SPD, der USPD und des Spartakusbundes. Die im Arbeiterrat organisierten Künstler haben seine Gründung nicht als künstlerischen Akt verstanden, sondern als politischen Akt, und haben dies explizit auch als solchen proklamiert. Es ging dem Arbeitsrat für Kunst um Kunst als Produktion, also um die Fragen: Wer produziert als Künstler_in und wie organisiert man sich als Künstler_in in der damaligen Gegenwart? In einem Manifest forderte der Arbeitsrat, die kaiserlichen Kunstinstitutionen umzustellen, wobei es eigentlich darum ging, selbst in die Institutionen zu kommen, also wiederum selbst mehr Sprechmacht in der damals stark impressionistischen Kunstszene zu erlangen. Zum Arbeitsrat gehörten Max Pechstein und Käthe Kollwitz, aber auch Bruno Taut oder Walter Gropius. Ihnen ging es darum, in den Kunstakademien zu kämpfen; der Kampf wurde innerhalb der Kunst geführt, sollte aber über die Kunst hinausgehen. Gleichwohl gab es eine klare Ansage gegen utilitaristische Kunst – und dies steht im krassen Gegensatz zu dem, wofür die konstruktivistischen und produktivistischen Künstler_innen im seit 1917 existierenden Kriegskommunismus in Russland zu dieser Zeit kämpften. Sie forderten einen Einbezug der Künste in die Gebrauchswertproduktion, um eben deren gesellschaftliche Kraft auszubauen und neu zu verteilen. Im Kapitalismus wäre diese Überführung eine in dasjenige System ökonomischer Vernutzung gewesen, das in Russland „abgeschafft“ worden war, der Kapitalismus. Überdies müssen wir uns vor Augen führen, dass es hier um eine Zeit geht, in der zwar das Bauhaus noch nicht existierte, in der es aber schon den Werkbund gab, mit dem die entscheidende Frage verbunden war, ob man das große Einzelwerk oder ob man einen Standard für die Gesellschaft produzieren wolle. In dieser Diskussion hat sich der Arbeitsrat klar auf der Seite des großen Einzelwerkes und für eine größere Autonomie der Kunst positioniert. Es handelte sich also um eine, wenn auch revolutionär gedachte, sehr kunst-immanente Veranstaltung.
Dennoch unterscheidet sich der Arbeitsrat in einigen Aspekten wesentlich von der Novembergruppe, welche sich später, im Dezember 1918, gründete. Hier wird die Kürze der revolutionären Phase des Expressionismus deutlich: während der Arbeitsrat seine Gründung in politischen Zeitschriften als einen dezidiert politischen Akt proklamierte, kündigte die Novembergruppe ihre Gründung in den Zeitschriften ,Die Aktion‘ und ,Der Sturm‘ an. In einem ihrer Manifeste stellte sie zudem fest, dass sie sich aus expressionistischen, kubistischen und futuristischen Künstlern zusammensetze – auf der einen Seite also eine Organisierung, die explizit im Kunstbereich erfolgte, auf der anderen Seite eine Programmvorgabe, die im Vorhinein festlegte, wer akzeptiert sei, und wer nicht. Die Novembergruppe bestand aus zwanzig Künstler_innen – neben César Klein gehörten dazu wiederum Pechstein und Käthe Kollwitz; wir haben hier also eine Überschneidung von fast 80 Prozent der Beteiligten – und war damit eine wesentlich kleinere, elitäre Gruppe als der Arbeiterrat. Dies wurde gleichzeitig ein zentrales Problem dieser Gruppe, denn zum einen war es eine Organisierung, die fast ausschließlich aus Maler_innen bestand, zum anderen hatte sie einen klaren nationalen Fokus. Von Anfang an stand fest: hier geht es um deutsche Kunst – was die Novembergruppe ebenfalls vom Arbeitsrat unterscheidet, der sich immer wieder auf die Proletkult-Gruppen um Anatoli W. Lunatscharski und ähnliche Bewegungen in Russland bezogen hatte. Bezeichnenderweise stellte sich die Novembergruppe im Jahr 1918 mit dem Motto „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ hinter die Losung der bürgerlichen Revolution, welche bekanntlich vor der industriellen Revolution stattfand, also bevor man über so etwas wie das Kapital diskutieren und in die eigene politische Positionierung einbeziehen konnte. Dies ist insofern bezeichnend, als dass damit deutlich wird, dass sich diese Künstler eine bürgerliche Freiheit wünschten und nicht eine Neubetrachtung der Kunst unter Maßgabe veränderter Produktionsbedingungen. Die Novembergruppe etablierte sich dann schnell als anti-spartakistische Position: sie gestaltete Plakate für die SPD, auf denen programmatische Parolen zu lesen waren, die entgegen der spartakistischen Streik-Politik die Wiederaufnahme der Arbeit forderten oder die Räterepublik in München verspotteten. Die politische Positionierung war bald relativ klar: man erhoffte mit dem Aufstieg der SPD selber Fuß in den Akademien und Institutionen fassen zu können. Diese Hoffnung stellte sich als eine trügerische heraus, denn als die SPD tatsächlich an der Macht war, schloss sie sich vor allem mit dem Impressionismus zusammen.
Über die Schwankungen des Expressionismus und die Kurzweiligkeit seiner mehr oder weniger revolutionären Phase hinaus, wird am Arbeitsrat für Kunst, als interessantere von beiden Gruppen, eine Entwicklung deutlich, auf die ich noch einmal eingehen möchte: Walter Gropius hatte Anfang 1919 die Leitung dieser tatsächlich sehr hierarchisch organisierten Institution inne. Eine seiner ersten Aussagen in dieser Position war: „Der Sozialismus ist so dreckig, dass wir jetzt anfangen sollten unsere inneren Welten zu bilden.“ Damit hat er die Vorurteile über den Expressionismus als Eskapismus, wie Dada ihn attackiert hatte, bestätigt und überhöht. Neben Gropius war außerdem Bruno Taut in einer führenden Position des Arbeitsrats – und obwohl sich Taut mit Gropius zum Beispiel in der Ablehnung des Werkbunds einig war, hat dieser eine entschieden andere Position vertreten: Es ging ihm darum, im Expressionismus einen Standard zu erschaffen. Es ging ihm also nicht um die genialische, spirituelle Einzelperson, sondern darum, einen Standard zu schaffen, der neues Denken über den Expressionismus und über ästhetische und künstlerische Produktion überhaupt erst ermöglichen sollte. Mit der Idee, dass es beim Expressionismus um allgemeines Denken gehen könne, und nicht einzig darum, eine Kunstakademie zu gründen, hat Taut ein wesentlich breiteres Spektrum als Gropius eröffnet – künstlerisch ebenso wie politisch – und sich damit auch implizit gegen den Elitarismus in der Kunst gewendet. Eingeschränkt wurde das im Resultat dann doch mit der Gründung einer Kunstakademie, dem Bauhaus in Weimar, dessen Leiter und Initiator Gropius ja bekanntlich war. Und man darf in diesem Zusammenhang nicht verschweigen, dass Gropius es sich zu seinem wichtigsten politischen und persönlichen Anliegen machte, sich gegen die „jüdischen Kriegsprofiteure“ zu engagieren, und noch in den dreißiger Jahren stritt er, der – obwohl emigriert – nie seine Reichsdeutsche Staatsangehörigkeit aufgeben wollte, für den Aufbau einer „wahren“ Kultur nationaler Prägung. Er und Taut haben damals dann die Diskussion über die mittelalterlichen Bauhütten geführt, bezogen sich also auf eine urdeutsche Tradition, die bekanntlich in den Grundgedanken des Bauhauses eingegangen ist.
Nun soll die Betonung der negativen Seite der Bauhaus-Schule und ihrer Idee nicht suggerieren, dass es hier nichts Progressives zu retten gäbe – es ist nur wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass gerade das expressionistische Erbe des Bauhaus nicht unproblematisch ist. Diejenigen, die direkt an der Gründung des Bauhauses beteiligt waren, gehörten zu einer Front, die eine explizit nationale Idee vertreten hatte.
Kerstin hat nun eine Tendenz von Kunstgeschichte herausgestellt, in der die Kunst selber fragwürdig wird. Ähnliches können wir auch für die Philosophie konzedieren. Wenn wir über den Expressionismus sprechen, befinden wir uns im ausgehenden 19. Jahrhundert, einer Zeit der Krise, die sich auch in der Philosophie bemerkbar macht; immerhin war das, was die bürgerliche Gesellschaft über die Welt zu sagen hatte, mit Hegel bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts abgeschlossen. Das, was Hegel als System entworfen hatte, war gescheitert, zersplittert in disparate Aphorismen; inhaltlich ohnehin, aber auch rein formal bilden Nietzsches Schriften hier den Gegenpol zu Hegels systematischem Philosophieren. Indes machen auch die materiellen Lebensverhältnisse um 1900 klar: die bürgerliche Gesellschaft hat ihr humanistisches, emanzipatorisches Ideal nicht zu realisieren vermocht. Zwischen dem deutsch-französischen Krieg Anfang der 1870er Jahre und dem Ersten Weltkrieg entfaltet sich der Kapitalismus als Imperialismus, bringt millionenfaches Elend in die Städte. Zugleich zeugen aber Elektrizität, Film, medizinische Entdeckungen, Radioaktivität und Relativitätstheorie von ungeheuren, zumindest technischen Fortschritten. Und durchaus ist das bürgerliche Leben, abgeschirmt durch Autoritarismus und Ressentiments, von Wohlstand und Reichtum charakterisiert. Dennoch zeigt sich auch und gerade im Bürgertum als herrschender Klasse das, was Georg Simmel als Tragödie der Kultur bezeichnet hat: subjektiver Geist und objektiver Geist stehen sich unvermittelbar, ungleichzeitig und ziellos gegenüber; mit der Krise, der „Kulturkrise“ oder „Sinnkrise“ reagiert das Bürgertums auf eine gesellschaftliche Situation, die es selbst nicht mehr beherrschen kann, ja nicht einmal versteht. Es kommt freilich nicht von Ungefähr, dass sich die Philosophie in dieser Zeit auf eben diese Fragen des Verstehens konzentriert, die es mit Positivismus, Vitalismus, Hermeneutik, Phänomenologie, Semiotik oder, in fortschrittlicher Variante, Philosophie der symbolischen Formen zu beantworten ersucht, während das große, konkrete und materiale Thema Gesellschaft sich als Soziologie vom philosophischen Diskurs abspaltet – man denke an Émile Durkheim oder Max Weber.
Auch die Kunst reagiert auf diese Krise, ist selbst ein Symptom der Krise. Das Bürgertum hat die Funktion der Kunst ursprünglich affirmativ bestimmt: sie soll Identität mit der Gesellschaft herstellen, und zwar im Sinne der bürgerlichen Ideale. Wo Kunst damit in Widerspruch zu den bestehenden Verhältnissen gerät, wird sie kritisch und radikal-utopisch, verfestigt aber auch ihren „affirmativen Charakter“, indem sie sich ein eigenes, von der Alltagswirklichkeit abgeschottetes Welt- und Wertereich schafft. Derart fungiert die Kunst als Reservat des Bürgertums, abstrakt im ästhetischen Programm der Autonomie, Souveränität und Authentizität der Kunst, konkret in der Musealisierung und überhaupt Institutionalisierung der Kunst. Sie ist ein Spiegel der bürgerlichen Gesellschaft, insofern man sich in der Kunst anschauen kann wie es eigentlich sein soll und woran man ideologisch festhält. Genau dies funktioniert nun aber im Fort- und Niedergang des bürgerlichen Zeitalters nicht mehr, die sei’s affirmative, sei’s kritische Beziehung der Kunst zur Realität ist zerbrochen, die Kunst reicht in ihrer bisherigen Form nicht mehr an die Gesellschaft heran. Darauf reagiert die Kunst, reflektiert ihren Status als moderne Kunst, indem sie Ästhetik und Wirklichkeit gleichermaßen infrage stellt. Die Avantgarden sind mithin eine Radikalisierung dieser Selbstreflexion, und folgen mehr oder weniger der Brechtschen Forderung: „Man muss so radikal sein wie die Wirklichkeit.“ Nun ist es jedoch die Frage der Kunst, wie diese Forderung umzusetzen ist, und Realismus und Expressionismus sind hierfür am Anfang des 20. Jahrhunderts gleichermaßen ästhetische Strategien.
Die Aufgabe der Kunst ist von den philosophischen Problemen der damaligen Zeit, ebenso wie den Erkenntnissen der Psychoanalyse – das Unbewusste, die Trieblehre und die Traumdeutung seien als Stichworte genannt – nicht zu trennen. Das findet sich etwa im Wunsch nach Spiritualität, in der Hypostasierung des Geistigen in der Kunst, wovon Kerstin eben in Bezug auf den Expressionismus gesprochen hat, berührt aber auch die dann für den Realismus nicht unwichtige Frage, ob Kunst ein Spiegel der Gesellschaft ist, oder ein Hammer, ob sie im Modus der bloßen Abbildung oder als kritische Konstruktion operiert? Indes ist das keine kunstimmanente Frage, sondern immer an den Status der Kunst innerhalb der Gesellschaft rückgekoppelt, der sich ebenfalls um neunzehnhundert grundlegend verändert: Für die bildende Kunst, Literatur, Musik etc. entsteht nicht nur in den Großstädten ein kulturelles Leben, ein regelrechter Kulturbetrieb, und gleichzeitig verschmelzen Künste und Handwerke zum Design.
Für den Marxismus haben zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Kunst und Kultur kaum eine Rolle gespielt. Was die Arbeiterbewegung interessierte, ergab sich über den Realismus der Lebensumstände von selbst, in nicht selten elender Weise – Geist und Utopie waren hier keine Themen von Belang. Da ist es freilich bemerkenswert, wenn ein Marxist wie Ernst Bloch 1918 ein philosophisches Buch mit dem Titel ,Geist der Utopie‘ veröffentlicht. Der Titel verspricht dabei mindestens zweierlei: Zum einen die Revision von Friedrich Engels’ Programm, der Sozialismus müsse von der Utopie zur Wissenschaft gebracht werden, zum anderen die Aktualisierung der Hegelschen Philosophie (freilich ist Blochs Titel auch als Anspielung auf Hegels ,Phänomenologie des Geistes‘ zu lesen). Für unser Thema ist jetzt relevant: Bloch formuliert seinen philosophischen Realismus als Expressionismus! Schon die ersten Worte des Buchs verweisen darauf, angefangen mit der ersten Überschrift „Absicht“ – nicht „Vorwort“, „Einleitung“ oder „Vorbereitung“, sondern: „Absicht“. Dann, erster Absatz: „Ich bin. Wir sind.“ So fängt kein philosophischer Text an, von dem eine dezidiert marxistische Analyse der Gegenwart zu erwarten ist. Dies ist aber die Sprache, in der Bloch schreibt: in der Sprache des Expressionismus. Form und Inhalt sind in Blochs Texten über das Expressive, den Ausdruck vermittelt. In dieser Weise, als „Prinzip Hoffnung“, wie sein späteres Hauptwerk heißt, greift Bloch in Perspektive konkreter Utopie auf, was etwa Karl Korsch und Georg Lukács Anfang der zwanziger Jahre kritisch-theoretisch entwickeln: dass es andere, bessere Gründe gibt, für eine Befreiung und Befriedung des Daseins zu kämpfen als das menschliche Elend, als Hunger und Not.
Ernst Bloch wurde 1885 geboren und arbeitete am „Geist der Utopie“ zwischen 1915 und 1917. Die erste Ausgabe erschien 1918, fünf Jahre später, 1923, eine ergänzte und überarbeitete Neuausgabe. Bloch schreibt:
»[…]; aber dass wir selig werden, dass es das Himmelreich geben kann, dass sich der evident eingesehene Trauminhalt der menschlichen Seele auch setzt, dass ihm eine Sphäre wie auch immer bestimmter Realität korrelativ gegenüber steht, das ist nicht nur denkbar, das heißt formal möglich, sondern schlechterdings notwendig weit entfernt von allen formalen oder legalen Belegen, Beweisen, Prämissen seines Daseins, aus der Natur der Sache a priori postuliert und demnach auch von utopischer, intensiver Neigung genau gegebener, essentieller Realität.«
Das sind Setzungen, die mit einer höchst metaphorisch aufgeladenen Sprache arbeiten und zwischen religiösen Motiven auf der einen und der Frage der konkret-politischen Umsetzbarkeit auf der anderen Seite changieren. Bloch selbst setzt dieses Changieren in einem Vexierbild von Kälte und Wärme fort, spricht vom Kältestrom und Wärmestrom des Marxismus – zwei Tendenzen, die sich gegenseitig bedingen und die beide notwendig sind. Auch hier ist die Sprache metaphorisch mit kommunistischer Utopie aufgeladen: es gibt das warme Rot und das kalte Rot. Das kalte Rot findet sich etwa in der marxschen Analyse des Kapitals: eine ganz klare Analyse der Wertvergesellschaftung und ihrer Funktionsweise, die Kritik einer Gesellschaft, die selber kalt ist und für deren Kritik es keiner Wärme bedarf. Auch das heißt ja im Übrigen so radikal zu sein, wie die Wirklichkeit: um den Kapitalismus zu kritisieren, brauchen wir keine Wärme, sondern wir müssen ihm mit derselben Kälte begegnen, mit der er die Menschen behandelt. Im Gegenteil, Wärme korrumpiert, heizt bloß Wut auf, staut Ressentiments erhitzter Gemüter. Daneben gibt es aber auch das warme Rot des Marxismus – das ist das Humane, das ist jüdischer Messianismus und christliche Nächstenliebe. Das warme Rot wäre nun ein Motiv, das in den Expressionismus hineinspielt, gerade wo sich die Expressionisten nicht in erster Linie als dezidiert politische Organisation begriffen, sondern als künstlerische Organisation. Und in dieser Wendung interessiert sich Bloch für den Expressionismus. Die politische Organisation, die als Apparat funktioniert, wie eine Partei etwa, bietet keinen Raum für Utopie, für das, was Adorno einmal die „metaphysischen Bedürfnisse“ nannte. Es fehlt der subjektive Faktor, wie Bloch sagt. Im Expressionismus kommt er zum Ausdruck.
Mit dem Expressionismus als künstlerischer Strömung befinden wir uns nun in einer Zeit, in der nicht nur das Scheitern der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Ideale offensichtlich wird, sondern auch in einer Zeit der Revolution. In unterschiedlichen Teilen Europas schien es, als ob der Kapitalismus keinen Fuß auf den Boden bekomme oder zumindest schnell enden könne und keine lange Historie haben würde. Es ist ein historischer Moment, in dem man sich vom Biedermeier befreite und zur Befreiung des Subjektivismus als einer objektiven Kraft losschlägt. – Die Expressionismusdebatte selbst fand allerdings zu einem Zeitpunkt statt, in dem das überhaupt keine Option mehr war: zwanzig Jahre später, zur Zeit der „Volksfront“, im Zusammenbruch der Weimarer Republik. Diesen Hintergrund muss man sich deshalb vergegenwärtigen, weil im Moment des Faschismus diese Subjektivierungsstrategie eine ganz andere Problematik mit sich bringt – in einem Moment der unmittelbaren Bedrohung des Lebens ist dies nämlich eine Form des subjektiven Luxus, den man sich überhaupt nicht mehr leisten kann!
Die Strategie der Volksfront wurde 1935 von der Komintern ausgerufen. Vorangegangen war dem eine Diskussion darüber, wie sich die faschistischen Kräfte, die in sich in den 1930er Jahren in Europa staatstragend verbreiteten, am besten und überhaupt von der Kunst aus bekämpfen ließen. Die Volksfront stellte hier eine völlig neue Strategie vor, denn bis dahin hatten sich die bürgerlichen und sozialistischen Kräfte gegenseitig bekämpft. Der Proletkult oder Personen wie Alexander Bogdanov standen in den späten 1910ern (auch explizit gegen V.I. Lenin) dafür ein, die bürgerliche Kunst der Vergangenheit zu beenden, aus ihr nur dies herauszufiltern, was der Schaffung einer sozialistischen Kultur dienen könne. Im Moment der Volksfront wurde aber genau diese Debatte mit der schrecklichen Einsicht stillgestellt, dass sich die bürgerlichen und sozialistischen Kräfte im Kampf gegen den Faschismus in Europa zusammenschließen müssten. Künstler_innen, Schriftsteller_innen und Philosoph_innen setzten sich nun zusammen an einen Tisch, weil sie einen dringlichen gemeinsamen Zweck verfolgten, der ihre individuellen Zwecke zunächst zurückstieß. Zu diesem Zweck gab es eine international eingeladene Konferenz, die 1935 von Louis Aragon und anderen wichtigen Figuren des Surrealismus wie André Malraux, André Gide und Romain Rolland organisiert wurde und den Titel „Internationaler Kongress der Schriftsteller für die Verteidigung der Kultur“ trug. Kein Marxist hätte in den Jahrzehnten davor an einem solchen Kongress teilgenommen, weil das, was im bürgerlichen Sinne als Kultur begriffen wurde, als etwas Anzugreifendes galt. An diesem Kongress nahmen nun – neben etwa Bertolt Brecht, Thomas Mann, Annemarie Schwarzenbach und auch Ernst Bloch – über 350 Personen aus unterschiedlichsten Lagern teil und fanden sich zusammen, um die Möglichkeiten der Volksfront zu beraten und darüber zu debattieren, wie man überhaupt als Schriftsteller in der damaligen Gegenwart einen politischen Einfluss nehmen kann; im Zentrum der Debatte standen die Reflexion der politischen Dimensionen, wie Möglichkeiten des eigenen spezifischen Handelns.
Im Anschluss an diese Konferenz entstanden zwei Initiativen zur Diskussion des Realismus – und man muss hier anmerken, dass der Sozialistische Realismus gerade ein Jahr zuvor in der Sowjetunion als einzige sozialistische Staatskunst per Diktum festgelegt worden war. Nun wurde diskutiert, wie mit diesem Diktum umzugehen wäre: zum einen in der Expressionismusdebatte, auf die wir später eingehen werden, und zum anderen 1936 in einer Pariser Realismusdebatte, die in mehreren Veranstaltungen diskutiert wurde, die wiederum von Louis Aragon organisiert waren. Hintergrund dieser Debatte war der Wahlsieg der Volksfrontparteien im Mai 1936, womit es nun zwar keine revolutionäre, aber immerhin eine sozialistische Regierung gab. Dadurch erhielt Aragon die Leitung des Pariser Maison de la Culture und André Malraux erlangte eine wichtige Stellung im Staat, was ein Klima schuf, in dem Realismus als Staatskunst diskutierbar wurde. Zu dieser Pariser Debatte wurden dann vor allem Maler eingeladen – ein entscheidender Gegensatz zur Expressionismusdebatte, denn Aragon hatte die Debatte als treuer Stalinist tatsächlich so organisiert, dass es explizit um realistische Malerei ging. Im Gegensatz zur Expressionismusdebatte wurde hier die Frage also keineswegs sehr offen gestellt. Vielmehr ging es in der von Aragon geleiteten Debatte in Paris um eine Suche nach dem Realismus als Frage nach dem politisch ,richtigen‘ Stil, und eben nicht – wie in der in ,Das Wort‘ geführten Debatte – darum, was real sei und wie sich in der Kunst dieses Reale überhaupt fassen und damit auch verrücken oder kritisieren lasse. Aragon hatte das Diktum der Partei ernst genommen und damit ging es ihm um realistische Malerei. So hatte er einige französische Maler um sich gesammelt, die tatsächlich Arbeiter malten und sehr wörtlich das realistische Diktum umsetzten. Fernand Legér und Le Corbusier markierten hier zwei der wichtigsten Positionen – nicht nur, weil sie die international bekanntesten Künstler dieses Zusammenhangs waren, sondern auch weil sie diese Frage immer noch am offensten behandelt haben. Was diese Position kennzeichnet, möchte ich in einem Zitat von Legér aus seinem Beitrag zu dieser Veranstaltung deutlich machen:
»Das erste Urteil des heutigen Menschen über die modernen Fabrikerzeugnisse ist ein ästhetisches. Er sagt: das schöne Fahrrad, das schöne Auto, und überzeugt sich erst danach ob es funktioniert. Schon beim Bemerken von Tatsachen spielt es eine Rolle. Der neue Realismus. In den Schaufenstern wird der Mensch von einem einzelnen Gegenstand angesprochen und verführt. Das ist der neue Realismus.«
Was hier besprochen wird ist eine Frage, die ganz klar den Realismus als eine Frage im Westen bestimmt, in Abgrenzung von der Realismusdebatte, die sich fragt, was die kommunistische Perspektive auf realistische Kunst ist. Was hier diskutiert wird, nimmt seinen Ausgangspunkt in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der Kultur ein ökonomisches Moment und selbst eine Ware ist. Realismus bedeutet also, sich mit der Industrialisierung in der Kultur auseinanderzusetzen. Realität zu begreifen, bedeutet hier, Waren zu begreifen und sich damit auseinanderzusetzen.
Dagegen setzt Aragon die gegenständliche Malerei. Er hatte selbst ein Buch über Courbet geschrieben, in dem er ihn als französischen Nationalmaler behandelt. Beim Stalinismus muss man sich immer vor Augen führen, dass er überhaupt keine antinationale Bewegung gewesen ist, sondern es um eine nationale Sache, also um nationalen Kommunismus ging. Das hat die Realismusdebatte in Frankreich 1936 sehr stark bestimmt und somit ging es eben darum, wie man die nationalen Arbeiter malerisch, realistisch, figurativ darstellen kann.
Es hat sich aus dem Kongress zur Verteidigung der Kultur 1935 jedoch auch eine anders orientierte Diskussion entwickelt, die 1937/38 in der Moskauer Exilzeitschrift ,Das Wort‘ stattfand. Hier wurde die Frage, wie man das kulturelle Erbe vor dem Feind retten kann, anders gestellt. Viel grundlegender wurde hier darüber diskutiert, was überhaupt kulturelles Erbe ist und über was für einen Gegenstand man eigentlich spricht, wenn man mit „Kultur“ umgehen will. Was gilt es davon zu fassen? Inwiefern will man sich der Realität, so wie sie besteht, bemächtigen und was kann man überhaupt tun, um ihr Herr zu werden? Wie ist also überhaupt eine eigenständige Haltung innerhalb dieser politisch desaströsen Situation zu finden?
Der Gegenstand der Expressionismusdebatte ist in erster Line keiner der bildenden Kunst, sondern vielmehr einer der Literatur. Man kann dies in dem Sinne wörtlich nehmen, dass es um die Sprache ging und darum, wie sich mit Sprache Wirklichkeit ausdrücken lässt – genau das meint ja Expression. Darüber hinaus geht es um ein Problem der Kultur; dass es sich mithin bei „Kultur“ um eine allgemeine Alltagspraxis handelt, war damals etwas völlig Neues. Vorher gab es einen Kulturbegriff, der historisch die Kulturleistung menschlicher Gesellschaft bezeichnete, also etwa die Hochkulturen Ägyptens oder Babyloniens. „Kultur“ hingegen als Alltagspraxis zu verstehen, hat die enorme Entwicklung der Massengesellschaft zur Voraussetzung, wonach sich eben auch die Massen kulturell im Alltag organisieren. Mit den zwanziger Jahren entsteht eine Angestelltenkultur – man besucht das Kino, liest Zeitung, geht in Cafes; die Straße wird zu einem Ort kultureller Betätigung, es gibt Schaufenster, Kaufhäuser, urbane Vergnügen – der Konsum rückt in den Vordergrund. In diesem Kontext zeigt sich nun auch die Kunst in einer neuen Konstellation: im Museum, in der Galerie, in der Ausstellung. Über die Alltagskultur definiert sich schließlich auch die politische Bedeutung der Kunst neu, und zwar im Sinne einer Kulturalisierung der sozialen Verhältnisse – Walter Benjamin bezeichnet das als „Ästhetisierung der Politik“.
Die berühmte Gegenforderung Benjamins lautet: „Politisierung der Kunst“. Doch genau das erweist sich als eminentes Dilemma der Avantgarden, zumal in Europa, in Deutschland: das emanzipatorische Potenzial der Kunst realisiert sich nur ästhetisch, nicht politisch; und die Ästhetik bleibt, wo sie nicht als Politisierung der Kunst aufgehoben wird, dem Politischen indifferent, wenn nicht gleichgültig gegenüber – sofern sie nicht ohnehin offen reaktionär auftritt. Gerade im Expressionismus sind „rechts“ und „links“ kaum verlässliche Kategorien. Kerstin hatte den Sozialisten und Nationalisten Gropius als Beispiel genannt; ebenso könnte man auf Gottfried Benn verweisen, oder auf Emil Nolde. Ebenso wie durch die stalinistische Doktrin vom sozialistischen Realismus, die seit 1932 beschlossene Sache ist, eigentlich für den Realismus erst recht die Frage zentral wird, was überhaupt Realismus ist und will, scheint nun hier auch die grundsätzliche Problematik der Expressionismusdebatte auf; so verwundert es nicht, dass etwa Georg Lukács fragt, wer denn nun überhaupt Expressionist sei, über welche Künstler man redet und was denn eigentlich Expressionismus genau ist?
Das bildet nun den Hintergrund für die Expressionismusdebatte von 1937/38, die sich in mehreren thematischen Punkten charakterisieren lässt:
Erstens die Fragen: Was muss eine antifaschistische Kunst auszeichnen? Wie muss die Literatur beschaffen sein, die in ihrer Form, in ihren Inhalten, in ihren Intentionen und in ihren Publikumserreichbarkeiten antifaschistisch ist? Anders formuliert: Gibt es linke Kunst, und gibt es Kunst, die explizit nicht reaktionär ist (ästhetisch, politisch, im Material)?
Zweitens, Frage der Parteilichkeit: Wie lassen sich mit künstlerischen Mitteln, das heißt mit der Literatur Faschismus und Nationalsozialismus kritisieren, sofern es um mehr geht, als bloß eine antifaschistische Haltung zum Ausdruck zu bringen?
Drittens das Erbschaftsproblem: Die Nazis bemächtigen sich der bürgerlichen Kunst und Literatur – sie vereinnahmen Goethe, Schiller, Heine etc. Kann man nun einen Schriftsteller wie Goethe gegen die Inbesitznahme der Nazis retten? Ist das Aufgabe der Kunst oder der Politik? Oder spricht die bürgerliche Kunst, spricht also Goethe für sich selber? Oder ist eine rettende Gegenlektüre notwendig (um zum Beispiel Goethe als bürgerlichen Revolutionär lesen zu können)?
Viertens: In welchem Verhältnis stehen Erbschaft und Aktualisierung? Ist die „klassische“ bürgerliche Kunst heute (also in den dreißiger Jahren) überhaupt noch aktuell? Zudem die Frage der Adaption: inwiefern thematisiert zum Beispiel Goethe um 1800 etwas, das man nun in die Gegenwart transformieren muss?
Fünftens („Kulturkampf“): Wie ist mit der faschistischen Kulturpolitik, mit der faschistischen Kunst und der in den Faschismus integrierten Kunst umzugehen?
Sechstens: Den Kritikern des Expressionismus ging es zudem um eine Kritik der künstlerischen Avantgarde. Zu diesem Zeitpunkt war in der offiziellen marxistischen, also stalinistischen Kunsttheorie „Avantgarde“ mittlerweile zu einem Schimpfwort geworden. Einhergehend mit einer Wendung gegen den Avantgardismus gibt es ein Ressentiment gegen das Abstrakte in der Kunst. Die Frage zielte also auf den Stellenwert und die Bedeutung der Abstraktion im Verhältnis zur Konkretion (auch in Bezug darauf, ob eigentlich das Konkrete mit dem Wirklichen synonym sei)?
Siebtens: Daraus folgte die Frage nach der sozialistisch-kommunistischen Kunst: Wie ist die sozialistische Gesellschaft darzustellen, und welchen Anteil hat die Kunst an der sozialistischen Gesellschaft? In welchem Verhältnis steht der Kommunismus als, nach Marx und Engels, „wirkliche Bewegung“ zur Kunst?
Achtens: Dabei geht es auch um Ästhetik aus marxistischer Perspektive: Was kann der Marxismus, den man bisher als Kritik der politischen Ökonomie oder im weiteren Sinne als Gesellschaftstheorie verstanden hatte, überhaupt zu Problemen der Ästhetik und Praxis der Kunst beitragen? Insofern geht es auch um das Vermittlungsproblem von Theorie und Praxis: Brauchen praktizierende Künstler überhaupt Theoretiker, Ästhetiker oder Kunsttheoretiker; hat die Kunst gegebenenfalls selbst den Status einer theoretischen Analyse? Kann Kunst eine Form von theoretischer wie praktischer Kritik formulieren, die eine Kritik der politischen Ökonomie ergänzt, erweitert oder sogar ersetzt?
Neuntens die Kunst und die Künste: Inwiefern zwingen oder bedingen die gesellschaftlichen Verhältnisse die Hierarchie der Künste und deren allgemeine Beziehung zu- und untereinander? Müssen die Grenzen der Künste neu definiert werden? Muss ohnehin Kunst neu definiert werden?
(Bei den meisten Punkten, die ohnehin über den Expressionismus-Realismus-Streit hinausweisen, wird zudem auch die Kritik und Verteidigung des Formalismus virulent …)
Diese Punkte finden sich nun in der Expressionismusdebatte in sehr unterschiedlicher Weise gruppiert; ich beschränke mich hier auf eine Gegenüberstellung der Positionen von Ernst Bloch und Georg Lukács: sie führen die Diskussion immer wieder auf die auch schon von Kerstin problematisierte Frage des eigentlich kritischen Gegenstandes zurück: was die Wirklichkeit ist, zu der es sich radikal zu verhalten gilt? Beide, Bloch wie Lukács, argumentieren aus einer marxistischen Perspektive, kommen allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen in der Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Politik.
Georg Lukacs veröffentlicht Anfang der 1920er Jahre seine Aufsatzsammlung ,Geschichte und Klassenbewusstsein‘. Gesellschaft versteht Lukács hier – nach einem bereits von Marx, allerdings nur beiläufig, verwendeten Begriff – als „konkrete Totalität“; die Lebensverhältnisse fasst er also als etwas Ganzes, das durch die Einheit der Produktionsverhältnisse bestimmt ist; entscheidend ist: Widersprüche zeigen sich innerhalb dieser konkreten Totalität. Bloch setzt nun dagegen, dass die Widersprüche so stark seien, dass man nicht von einer konkreten Totalität als Wirklichkeit ausgehen könne; vielmehr deutet sich an, dass – so wie der frühe Lukács von einer Zerrissenheit gesprochen hat – von einer zerbrochenen Wirklichkeit auszugehen ist, von einer Zerbrochenheit: Erster Weltkrieg, Faschismus und der sich anbahnende nächste große Krieg machen die Wirklichkeit nicht mehr als Totalität zugänglich. Allerdings bietet der Expressionismus einen Zugang, und Bloch verteidigt ihn als kritische Waffe, die ohnehin schon brüchige Realität zu zerschlagen. Lukács kontert: unabhängig davon, wie die Kunst operiert, hätte sich der Marxismus in der Logik der Theorie zu erweisen – und das bestimme auch die Kunst. Anders gesagt: die Kunst bleibt in einem repräsentativen Verhältnis zur Gesellschaft.
Lukács schreibt:
»Was hat das alles mit Literatur zu tun? Nach einer expressionistischen oder surrealistischen Theorie, die die Beziehung der Literatur zur objektiven Wirklichkeit leugnet, gar nichts. Für eine marxistische Theorie der Literatur sehr viel. Wenn die Literatur tatsächlich eine besondere Form der Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit ist, so kommt es für sie sehr darauf an, diese Wirklichkeit so zu erfassen, wie sie tatsächlich beschaffen ist und sich nicht darauf zu beschränken das wiederzugeben, wie es unmittelbar gegeben erscheint. Strebt der Schriftsteller nach einer solchen Erfassung und Darstellung der Wirklichkeit, wie sie tatsächlich beschaffen ist, d.h. ist er wirklich ein Realist, so spielt das Problem der objektiven Totalität der Wirklichkeit eine entscheidende Rolle, ganz einerlei wie diese vom Schriftsteller gedanklich formuliert wird.«
Im Kontrast dazu ein Zitat von Bloch:
»Aber auch heute noch ist kein großes Talent ohne expressionistische Herkunft. Mindestens ohne deren hoch gesprenkelte, höchst gewittrige Nachwirkung. Den letzten Expressionismus stellten die so genannten Surrealisten, eine kleine Gruppe nur, aber wieder ist Avantgarde bei ihnen, und Surrealismus ist erst recht Montage. Sie ist die Beschreibung des Durcheinanders der Erlebniswirklichkeit mit eingestürzten Sphären und Zäsuren.«
Bloch argumentiert – wie übrigens, wenn auch aus anderen Gründen, Brecht – genau entgegengesetzt: Kunst hat keine repräsentative Funktion und sie ist kein Mittel der Politik, sondern sie ist selbst ein politisches Mittel, das einen Ausdruck erzeugen kann, der nicht repräsentiert; Kunst präsentiert und ist insofern kritischer Ausdruck der Verhältnisse. Lukacs hingegen sieht durch den Expressionismus die Wirklichkeit schlechterdings verschleiert. Lukács bleibt bei der Objektivität der Totalität, während Bloch dagegen den subjektiven Faktor verteidigt, dass uns die Künstler in ihrer produktiven Praxis permanent darauf hinweisen, dass die Wirklichkeit in dieser Form nicht mehr zu haben ist. Der Expressionismus ist insofern nicht nur die Ideologie der Wirklichkeit, sondern zugleich auch das adäquate Mittel, diese Ideologie zu zerschlagen und somit tatsächlich einen Zugang zur Wirklichkeit als konkreter Totalität herzustellen.
KS: Die Expressionismusdebatte ist durch die Verschiebungen im Zuge der Blockkonfrontation und des kalten Krieges sehr spät analysiert worden. Erst in den siebziger Jahren, in denen Hans-Jürgen Schmitt die gesammelten Beiträge der Debatte im Suhrkampverlag herausgegeben hat, hat man sich wieder mit ihr auseinandergesetzt, und dies nicht zuletzt, weil eine Auseinandersetzung mit dem orthodoxen Marxismus wieder aktuell wurde. Für eine gegenwärtige Debatte um den politischen Charakter der Kunst hat der Realismus heute meines Erachtens einen zentralen Stellenwert – auch, weil er immer eine künstlerische Bewegung und kein Stil gewesen ist. Damit entzieht sich der Realismus der bürgerlichen Kunstgeschichte, die jegliche künstlerische Produktion zu einem Stil erklärt und verengt um ihn oberflächlich greifbar zu machen (die vereindeutigende Reduktion des Produktivismus auf den Konstruktivismus ist hier das beste Beispiel). Das ist das Format, mit dem Kunst in eine Epoche gepackt und kanalisiert wird, um sie in einem Museum verwalten zu können und um sich gelegentlich an ihr zu erfreuen. Im Gegensatz dazu verbindet Künstler, die sich als Realisten verstanden haben, über die Epochen hinweg, von Courbet bis zu einigen Teilen der britischen Brutalisten, wie etwa Peter und Alison Smithson, die Frage danach, was real ist. Das heißt ihnen geht es nicht um ein repräsentatives Verhältnis zur Faktizität, sondern um die Struktur, die bestimmt, was wir sehen. Die Frage lautet nach wie vor: Wie kann man mit künstlerischen Mitteln fassen, was das Reale selbst ist? Der Realismus reflektiert diese Frage auch als politische Frage, nämlich als Frage nach der eigenen Rolle im Produktionsprozess. Insofern lässt sich sagen: Realismus ist die Organisierung von künstlerischer Arbeit und erschöpft sich deshalb nicht in einem Stil. – In der Expressionismusdebatte ging es mithin um die Frage, was das Reale in der Gegenwart ist. Es ist eine Frage, die in der Gegenwart bestehen bleibt.
RB: Allerdings ist genau das auch problematisch: Zwar lässt sich von der Kunst aus die Frage nach dem Realen in der Gegenwart stellen, doch die Gegenwart, das Reale, nach dem da gefragt ist, interessiert sich eigentlich nicht für eine Kunst, die diese Frage stellt. Damit steht für den Realismus wie für den Expressionismus nach wie vor die politische Relevanz auf dem Spiel – ein Spiel indes, das umso gefährlicher wird, je mehr die Gegenwart, die gesellschaftliche Wirklichkeit selbst auf dem Spiel steht. Das führt jedoch zurück zu dem, was Herbert Marcuse in ,Triebstruktur und Gesellschaft‘ die ästhetische Dimension nennt und später in seinem ,Versuch über die Befreiung‘ von 1969 mit dem Begriff der neuen Sinnlichkeit aktualisiert: dass nämlich ein politisches, emanzipatorisches Potenzial in der Kunst selbst liegt, und zwar gerade in der Kunst als Produktion, als Praxis. Dieses Moment scheint mir im Realismus zu schnell geopfert zu werden. – Anders im Expressionismus, dem dieses ästhetisch-schöpferische Moment ja nachgerade wesentlich ist. Allerdings muss man dann erst einmal kritisch prüfen, was von der Expressivität noch übrig bleibt, wenn man die reaktionären Verkrustungen vom Expressionismus abschlägt, was natürlich für die Rettung nötig wäre.
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