Tilman Reitz
Der als Frühsozialist bekannte Fourier ist ästhetisch mindestens ebenso stark rezipiert worden wie politisch oder sozialtheoretisch – aus guten Gründen. Erst einem Sinn für das Spiel von Formen und Umkehrungen erschließt sich das befreiende Potenzial seiner idiosynkratischen, esoterischen und nicht selten befremdlichen Schriften. Einige dieser Gründe will ich hier ausführen, indem ich erläutere, weshalb Fouriers Theorie besonders die Avantgarden des 20. Jahrhunderts (bzw., um es gleich genau zu sagen, ihre Kommentatoren und Nachzügler) angezogen hat. Vorwegnehmen kann ich, dass dabei nicht nur das Geradeausdenken von Theorie und Politik in Frage steht: Wer mit Fourier arbeitet, muss auch die Grenzen von Ästhetik und Kunst im klassisch-bürgerlichen Sinn unterlaufen. Denn in seiner Sozialutopie geht es nicht um distanziertes, »uninteressiertes« sinnliches Wohlgefallen, sondern um einen die gesamte Realität durchdringenden Spieltrieb und unmittelbare, vollständige Erfüllung. Die nähere Betrachtung wird zeigen, dass beides ebenso als Traum wie als Albtraum begreifbar ist – weshalb Fourier auch zum Verständnis gegenwärtiger Kulturproduktion beitragen kann.
Ich beginne mit zwei Bestandsaunahmen, einer zu Fouriers Entwürfen selbst und einer zu seiner avantgardistischen Rezeption, um diese dann in drei Schritten zu deuten und zu ergänzen. Mein Versuch dazu setzt bei der Verbindung von Kunst und ›Leben‹ an, nimmt selektiv Deutungen zur Massenkultur-affinen Logik von Fouriers Schriften auf und begreift ihn schließlich als Vermittlungsglied zwischen Kulturindustrie und avantgardistischer Abweichung. Bei alledem kommt es mir eher auf reflexive Zuspitzung als auf detaillierte Belege an – die können und sollten später folgen, etwa wenn endlich mehr von Fourier kritisch ediert und übersetzt wird.
Fouriers Plan einer neuen Sozialordnung bzw. Form des Zusammenlebens, den er von der Erstlingsschrift Theorie der vier Bewegungen (1808) bis zum Hauptwerk Le nouveau monde industriel (1828) und dem unabgeschlossenen, lange nicht edierten bzw. von seinen sonst fleißig aus dem Nachlass publizierenden Schülern zurückgehaltenen Entwurf Le nouveau monde amoureux reichen, ist oft und häufig gut zusammengefasst worden. 1 Da allerdings ein gewisser Überblick für die weitere Diskussion unverzichtbar ist, setze ich ebenfalls damit an, beschränke mich aber auf wenige Hauptpunkte.
Les attractions sont proportionelles aux destinées1 – die Anziehungen, so lautet Fouriers Grundsatz, entsprechen den Bestimmungen. Stärker erläuternd könnte man auch übersetzen, dass alles, was Menschen wollen, erfüllt und befriedigt werden kann, weil irgendwo immer ein komplementäres Begehren vorliegt. Das gilt zunächst für andere Menschen, setzt sich aber in einer grundoptimistischen Theologie, Kosmologie und sogar Zoologie fort, die Fouriers Anthropologie, Soziallehre und Geschichtsauffassung rahmen, aber auch freizügig als Fundus zur Symbolisierung menschlicher Verhältnisse genutzt werden. In diesen Verhältnissen selbst wird zunächst eine ausgeklügelte soziale Organisation angestrebt, die alle Bedürfnisse und Begehren tatsächlich zueinander bringt – wobei, wie am Ende noch zu diskutieren sein wird, weitgehend unklar ist, ob dieses Ergebnis von omnikompetenten Organisatoren oder eher durch spontane Selbstorganisation erreicht werden soll.
In jedem Fall präsentiert Fourier einen sozialtechnologischen Vorschlag. Dessen Kernidee ist die (Re-)Organisation der attraktiven Tätigkeiten, die weitgehend als identisch mit den sozial notwendigen Arbeiten begriffen werden. Wie später bei Marx geht es darum, Arbeit aus den Zwängen von Lohnerwerb und Profitanhäufung zu lösen, um sie stattdessen daran zu binden, dass Menschen Dinge gern tun und herstellen: Blumen oder Reben züchten, Kochen, Kleider oder Instrumente anfertigen. Die bereits hier konzipierte Verbindung der Leidenschaften zu ›Serien‹ des Zusammenwirkens erlaubt auch die sonstigen Aktivitäten durchgängig lustvoll zu gestalten, weil immer jemand da ist, mit dem man über die Zeitung reden, essen oder sich lieben kann. Erforderlich ist dafür vor allem, die bisherigen Grenzen zwischen öffentlichen Bereichen (inklusive dem Marktgeschehen) und privatem Raum (vor allem dem Familiär-Intimen) aufzuheben bzw. deren Verhältnis neu zu bestimmen. An die Stelle ihrer antiken oder modernen Separation soll eine Art Super-Oikos treten, eine große Lebens- und Produktionsgemeinschaft, die laut einiger von Fouriers vielen Berechnungen 1620 Menschen umfassen soll – genug, um für jede Leidenschaft das passende Komplement zu finden.
Gearbeitet wird in diesen Einheiten vor allem nach dem Prinzip der Abwechslung (nicht mehr als zwei Stunden das Gleiche), befeuert durch den Wettstreit der verschiedenartigen und ähnlichen Persönlichkeiten (ein oft zitiertes Beispiel sind die Züchter harter und weicher Birnen; Fourier zieht auch den Fall verschiedener Blumen und Nutztiere heran). Ein Teil der organisierten Tätigkeit besteht zudem darin, ihre Rekombination auszuhandeln; man trifft sich abends in der gemeinsamen »Börse«, um zu befinden, wer am nächsten Tag wann mit wem zusammenwirkt. Auch sonst werden unter dem Dach allgemeiner Solidarität stark wechselnde interindividuelle Verhältnisse arrangiert; im vormals Privaten herrscht keine Kleinfamilien-Enge, weil Liebe und Leidenschaft von der Fortpflanzung und Kinderpflege entkoppelt sind. Das erlaubt auf der einen Seite Poly- und tendenziell Omnigamie, zugleich können sich die gemeinsamen Kinder schon früh gemäß eigener Neigung in den produktiven Kontexten tummeln, die das Leben in der Phalange und im Phalanstère strukturieren. Diese Namen für das gemeinsame Haus, die soziale Einheit und ihre architektonische Infrastruktur, verweisen schließlich darauf, dass auch die Institutionen früherer politischer Öffentlichkeit in Fouriers Modell eine Nachfolge finden – durch sozusagen entkernte Fortschreibung militärischer, religiöser und repräsentativer Formen.2 Die Phalanx (wie ich im Folgenden übersetzen werde) ist offenkundig der antiken Schlachtordnung nachgebildet; von der Birnenzüchterserie bis zur Gesamtordnung der Frauen und Männer, Alten und Jungen strukturiert Fourier Gruppen nach ›Zentrum‹, ›aufsteigendem‹ und ›absteigendem Flügel‹. Das gleiche Muster findet sich in Kostümen und kultischen Rollenzuweisungen wieder, die die Einzelnen mal als Priester, mal als Göttinnen auftreten lassen und so ihren Arbeits- oder Geschlechtsverhältnissen kollektive Sichtbarkeit geben.
Theoretisch wird die entworfene Sozialtechnik in einem Schema der Leidenschaften fundiert, von dem ich nur zwei Punkte hervorhebe. Zum einen führt Fourier neue, charakteristische passions ein. Neben den Bedürfnissen der fünf Sinne und den sozialisierenden Leidenschaften Freundschaft, Wettbewerb, Liebe, Familiensinn kennt er spezielle Neigungen zu Kombination und Dissoziation, die für soziale Bewegung bzw. ein weiteres Äquivalent zur herkömmlichen Politik sorgen: la papillone, »alternante, contrastante«, das Bedürfnis nach Abwechslung, la cabaliste, »intrigante, dissidente«, die Disposition zu Streit und Intrigen, sowie la composite, »exaltante, egrenante«, die verbindende Begeisterungsfähigkeit.3 Wichtig ist zum anderen, dass Fourier im Gegensatz zu fast jeder sonstigen Ethik allen diesen Leidenschaften gerecht werden will; sie sollen nicht begrenzt, sondern gesteigert und eben verbunden werden – sind also Material und Anlass für eine ausgedehnte Kombinatorik.
Exzessiv wird diese Kombinatorik spätestens durch ihre kosmologisch-weltgeschichtliche Einbettung, die mit viel Fantasie und Vertrauen auf einen uns besonders wohlwollenden Schöpfergott entfaltet ist. Fourier kennt acht Weltzeitalter und prognostiziert eine völlige Umgestaltung der Erde, der schließlich ein Aufbruch zu anderen Planeten folgt. Wir (genauer Fouriers Zeitgenossen) leben im fünften Zeitalter, der Zivilisation, nach der freieren Zeit der Barbarei (die ihrerseits hinter früheren Zuständen wie der Wildheit zurückbleibt) und kurz vor dem Anfang des menschlichen Glücks – dem genossenschaftlichen ›Garantismus‹, gefolgt von der beginnenden und vollendeten Harmonie. Insgesamt stehen der Menschheit 40.000 Jahre Glück bevor, dann folgt ihr langsamer Niedergang. Trotz der weiten Zeithorizonte ist allerdings Beschleunigung möglich: Mit der Einrichtung der ersten Phalanx würde eine soziale Explosion ausgelöst (die exponentielle Nachahmung der hochattraktiven Einrichtung), die es ermöglichte, den Garantismus einfach zu überspringen. In jedem Fall wird die bessere Gesellschaft der Zukunft auch die Natur zu Umwälzungen befähigen; Fourier ist bekannt für seine Visionen von Gegen-Haien, Gegen-Tigern, Gegen-Ratten, die zahm sein und uns nutzen werden, Schiffe durchs Meer ziehen u. ä. Zusätzlich sind neue Gestirne und Halbgestirne wie eine »boreale Krone« vorgesehen, die für Licht und Wärme am Nordpol sorgt; das Meer wird entsalzen und limonadenartig. Zwischen Schlaraffenland-Motiven dieser Art finden sich auch restrospektiv einleuchtende Antizipationen, etwa von Telekommunikationstechnik.
Die Gesamtheit der genannten Motive macht schließlich eine überbordende Analogiebildung möglich (oder geht aus dieser hervor):4 Die Epochen von Kosmos, Erde und Menschheit werden mit Architektur und Organisation der Phalanges und Phalanstères in Entsprechung gesetzt, denen wiederum Abschnitte des menschlichen Lebens, Strukturen der Produktions-, Liebes- und Ritualeinheiten, der Leidenschaften, der Tonleiter (mit ihren zwölf Halbtönen), der Farben und vielem mehr entsprechen.
Sieht Fouriers Utopie so betrachtet wie eine menschenfreundliche Fantasiewelt aus, hat der zeitdiagnostische Hintergrund, vor dem er sie entwirft, auch eindimensionale und bösartige Züge: Der Zivilisation und ihrer Ökonomie tritt er nicht zuletzt mit Antimodernität und Antisemitismus entgegen. Einen Ausgangspunkt dieser Haltungen Fouriers kann man mit marxistischem Blick darin sehen, dass er vorrangig den »Betrug« im Handel und an der Börse kritisiert, nicht Ausbeutung und Fremdbestimmung in der Produktion.5 Entsprechend dominiert eine Parasitenkritik mit antijüdischer oder anderweitig rassistischer Prägung: Die Negativbeispiele in der Theorie der vier Bewegungen heißen Ischariot, England und China. Weiterhin erscheinen bei Fourier die großen Städte wesentlich als Orte von Verfall, Laster und Ungesundheit, die Landkommunen dagegen als überschaubare, kerngesunde Ordnungen. In diesen Punkten hebt er sich kaum von den herrschenden Klischees des 19. Jahrhunderts ab.
Weshalb man trotzdem (vor allem von links) an ihn anschließen kann, lässt sich am besten mit einigen Abstraktionen klären, die strategische Vorzüge im fantastisch-utopischen Kern seines Entwurfs hervortreten lassen: Anti-Repressivität, Differenzbejahung und maximale Disponibilität. Erstens droht bei Fourier entschieden kein Tugendterror: Nicht nur gelten die Menschen bei ihm als Produkt ihrer Verhältnisse, darüber hinaus will er wie gesehen ihre Leidenschaften sozial reorganisieren, nicht individuell disziplinieren. Dem entspricht eine durchgängige Polemik gegen die triste Moral des Verbots; entworfen werden »Verhältnisse […], in denen die Sittlichkeit sich erübrigt«.6 Organisierend ist dabei zweitens ein Prinzip maximaler qualitativer Differenz statt formalisierter Gleichheit. Die Unterschiede zwischen Anlagen, Wünschen und Tätigkeiten der Einzelnen werden in der Phalanx nicht eingeebnet, sondern durch Pluralisierung relativiert. Weil jeder in irgendeiner Weise wichtig ist, müssen individuelle Vorzüge nicht zur Dominanz privilegierter Gruppen führen – Michael Walzer könnte daran seine Freude haben. Anders als er und andere Differenzierungsdenker will Fourier jedoch drittens nicht kostbare evolutionäre Errungenschaften erhalten, sondern nimmt fast keine gegebene Einrichtung oder Struktur als unveränderlich hin. Von Liebe und Fortpflanzung über Arbeiten und kultisches Leben bis hin zu den Naturverhältnissen ist bei ihm alles Gegenstand hedonistischer, re-kombinatorischer Fantasie. Das macht die radikal utopische Qualität seines Denkens aus.
Die fantasmatischen Qualitäten Fouriers erschöpfen sich wie angekündigt nicht in dem, was man ihnen an abstrakten Hinweisen auf eine bessere Gesellschaft entnehmen kann. Sie haben bereits früh im Medium der Bilder und Fiktionen bzw. bei avantgardistischen Künstlern, Ästhetikern und Kritikern des Kunstfeldes weiter gewirkt. Auch dazu will ich zunächst einen knappen Überblick geben.
Nachbarschaft zu den Saint-Simonisten. Ein auf Kunst bezogener Avantgardebegriff bildet sich parallel zu Fourier, bei Saint-Simon und in dessen Schule aus, die auch sonst eine (etwas ältere) Schwesterbewegung zum Fourierismus bilden. Als Saint-Simon in den 1820er Jahren beginnt, seine lange Zeit vor allem produktivistischen Gesellschaftsentwürfe durch Verweise auf eine neue Religion und eben Kunst zu ergänzen, arbeitet sein Schüler Olinde Rodrigues den ästhetisch entscheidenden Beitrag aus: L’artiste, le savant et l’industriel von 1825. Der fourieristische Paralleltext entsteht 20 Jahre später: Gabriel Laverdant, De la mission de l’art et du rôle de l’artiste (1845). Die Avantgarde-Funktion der Künstler ist in beiden Fällen die Proklamation des sozialen Fortschritts: » Die Kunst, Ausdruck der Gesellschaft, beschreibt auf höchster Ebene die fortschrittlichsten Gedanken: Sie ist Wegbereiter und Verkünder. «7 Beide Male geht es entsprechend nicht um ein l’art pour l’art (woran vielmehr Kritik geübt wird), sondern um die Integration der Kunst ins Leben oder ihre Eingliederung in ein soziales Funktionsgefüge: Sie soll entweder Patriotismus, Religion und Gemeinsinn befördern (Saint-Simon, Rodrigues) oder zur Steigerung des allgemeinen Glücks beitragen (Laverdant).
Die sozialrevolutionären und -reformerischen Phasen der Literaten. Die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts haben nicht nur vielfältig Sozialforschung avant la lettre hervorgebracht, die meisten von ihnen verbindet auch ein zeitweiliges Interesse für Sozialutopien und die soziale Revolution, das bei vielen mit Begeisterung für Saint-Simon oder für Fourier einherging. Er war etwa für Stendhal, Baudelaire, Gautier, Balzac, Zola und sogar Dostojewski eine wichtige Bezugsfigur. Der typische Verlauf besteht dabei aus einer kurzen jugendlichen Fourierphase und einer Serie spöttischer Reminiszenzen im späteren Werk.8 opposed centralisation of power« automatisch Fourier im Gegensatz zu Saint-Simon zuschlägt.] Wie die letzteren aussehen können, zeigt eine Reflexion aus Balzacs Glanz und Elend der Kurtisanen: »Die Prostitution und der Diebstahl sind zwei lebendige Proteste […] des Naturzustandes gegen den Zustand der Gesellschaft. Daher kommen denn auch die gegenwärtigen Philosophen, die Neuerer, die Humanitätsprediger, die die Kommunisten und Fourieristen im Gefolge haben, ohne dass sie es merken, schließlich zu denselben zwei Resultaten: der Prostitution und dem Diebstahl.« Auf Fourier dürfte sich hier spezifisch die ›Prostitution‹ beziehen.
Ästhetische (Post-)Avantgarden. Was folgt, ist eine beachtliche Lücke. Denn Fouriers Rezeption in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts setzt – sieht man von zwei gleich zu nennenden theoretischen Vertretern ab – erst deutlich nach deren Hochzeit in den 1920er und 30er Jahren ein. Den Anfang macht Bretons Ode à Charles Fourier von 1945/47. Breton hatte bereits 1935 knapp auf Fourier Bezug genommen, doch eine substanzielle Lektüre scheint erst im amerikanischen Exil stattgefunden zu haben. Das Resultat ist eine Bestandsaufnahme der europäischen (Nach-)Kriegssituation in fourierschen Begriffen, die für sich interessant sein mag, allerdings aus nachvollziehbaren Gründen wenig utopische Ansätze aufnimmt. Danach lassen sich zwei interessantere, komplementäre Entwicklungen protokollieren:
Einerseits lebt in politiknahen Avantgarden und Gegenkulturen immer wieder das Interesse an fourieristischer Praxis auf. Das vielleicht beste Textbeispiel ist der Avis aux civilisés relativement à l’autogestion généralisé, ein Manifest des Situationisten Raoul Vaneigem von 1969. Sein Grundsatz lautet, dass keine Lebensform und keine Revolte, die uns nicht im Hier und Jetzt glücklich macht, akzeptabel ist. »Pour tous, le début du moment révolutionnaire doit marquer une hausse immédiate du plaisir de vivre. « 9 Es geht mit anderen Worten darum, die alltägliche Praxis, Ideologie und Geschichtsphilosophie des Triebaufschubs zu verweigern. Die noch zu schreibende, vermutlich nie ganz abgebrochene Gesamtgeschichte der Phalanx-Gründungen oder Fourier-inspirierten Experimente in Amerika und Europa hat hierdurch neuen Antrieb erhalten; ein jüngeres, dokumentiertes Beispiel bietet die Friedrichshof-Kommune des Wiener Aktionskünstlers Otto Mühl. 10
Auf der anderen Seite steht die Verarbeitung Fouriers durch Dichter-Intellektuelle, die von der Kunst zur Theorie und von der Avantgarde in die Post-Avantgarde führt. Zu nennen sind Raymond Queneau als später Surrealist und Mitglied des parodistisch-theoretischen Instituts für Pataphysik, Michel Butor als Protagonist des Nouveau Roman und Literaturprofessor, Italo Calvino als zeichentheoretischer Erzähler und Essayist. Der letzte Fall ist der signifikanteste: Calvino kontrastiert in mehreren Aufsätzen Anfang der 1970er Jahre die seiner Ansicht nach realisierte Utopie Saint-Simons – die er in technokratischen Regimes der USA und UDSSR wieder erkennt – mit der prinzipiell nicht realisierbaren, outriert fantastischen Utopie Fouriers. Hier ist denn auch der Übergang zur Post-Avantgarde greifbar; statt Kunst und Leben zu fusionieren, wird noch der ästhetisch gehaltvolle Entwurf einer neuen Lebensordnung in die Distanz des Imaginären gerückt. Was an möglicherweise praktisch relevanten Resten bleibt, ist eine utopia pulviscolare, eine zu Staubteilchen pulverisierte Utopie.
Avantgardenahe und -skeptische Intelligenz. Von den essayschreibenden Schriftstellern ist der Weg nicht weit zu den ästhetisch-avantgardistisch inspirierten Theorien, die Fourier bereits früher (wieder) entdeckt haben. Die stärkste Verbindung zum Surrealismus schafft Walter Benjamin. Er nutzt Fourier für seinen Versuch, die kapitalistische Kultur des 19. Jahrhunderts als Chiffre kollektiver Wunschausdrücke zu lesen, die utopisch und verklärend zugleich sind, ein Traum, den man erst im revolutionären Erwachen auslegen könnte. Mit dem Surrealismus verbindet dieses Projekt ein Interesse am Veralten der Wunschbilder, an der Tabuisierung und Verstümmelung der Wunschgehalte, an der (masochistischen) Lust, die ihre fremdbestimmte Rekombination erzeugt. Fouriers Wunschwelt passt in diesen Kontext, weil Benjamin eine Parallele zwischen den Phalanstères und den frühen Pariser Einkaufspassagen sieht: Das im Schaufenster nur ästhetisch Verfügbare wird bei Fourier als real konsumierbar vorgestellt, in seinem Sozialentwurf ist wie im Innen-Außenraum der Passagen die Grenze von öffentlich und privat aufgehoben. Ein heikler Punkt an dieser Zuordnung ist ihr latenter Anachronismus, da Fouriers Utopie den Passagen vorausgeht, statt von ihnen provoziert zu werden (und sie teilweise sogar, wie Benjamin meint, biedermeierlich zu verharmlosen).11 Allerdings lässt sich die Zeitfolge ohne große theoretische Verluste umkehren bzw. zurechtrücken; Fourier ist auch als Antizipation und Variante der neuen Warenästhetik lesbar, die man dann ihrerseits als utopische Antizipation deuten kann.
Knapper, weil mit weniger Anschlussideen möchte ich auf die beiden Autoren verweisen, die Fourier mit der poststrukturalistischen Theorie-Avantgarde verbinden: Pierre Klossowski und Roland Barthes. Der erstere hat Fourier etwa zeitgleich mit Benjamin, um 1935 entdeckt, möglicherweise ebenfalls in surrealistischen Kontexten oder sogar im Kontakt mit dem Institut für Sozialforschung (wo er als Übersetzer von Benjamins Kunstwerkaufsatz im Gespräch war). Der Akzent liegt hier und in seiner fortgesetzten Beschäftigung mit Fourier auf sexueller Überschreitung, weshalb auch durchgängig der Vergleich mit de Sade gezogen wird. Zeitgleich mit Klossowskis späteren Arbeiten führt dann auch Roland Barthes diesen Vergleich durch; das Ergebnis ist die 1970 erschienene, auf etwas früheren Aufsätzen fußende Studie Sade Fourier Loyola. In Gegenbewegung zu den Faszinationsthemen Grausamkeit, Begehren und Glaubensdisziplin arbeitet er strukturgleiche symbolische Operationen bei allen drei Autoren heraus. Ignatius, Sade und Fourier seien durch Isolieren, Artikulieren, Anordnen und die Aufhebung von Figur-Grund-Verhältnissen vor allem Sprachschöpfer gewesen. Das Resultat für Fourier ähnelt dem bei Calvino (der denn auch in denselben Theoriezirkeln aktiv war wie Barthes): Fällt dort der Impuls zur Verwirklichung weg, so wird hier der utopische Inhalt als solcher neutralisiert.
Im Folgenden will ich prüfen, ob dieses ernüchternde Ende verdient war und ob die vielen Verfehlungen in der geschilderten Rezeptionsgeschichte vermeidbar gewesen wären. Die Antwort wird zumindest teilweise Ja sein – sonst hätte die erneute Aufnahme des Themas Fourier und Avantgarde ja auch wenig Sinn.
Selbst wenn Fourier nur am Rand und im Auslaufhorizont der Avantgarden stärker rezipiert wurde, kann sein Ansatz als protoavantgardistisch gelten. Zumindest entspricht er relativ genau Peter Bürgers Definition, nach der die Avantgarden wesentlich die Trennung von Kunst und Leben angreifen. Bei Bürger ist das ausgehend von der (bürgerlichen) Kunst gedacht, deren Rahmen gesprengt werden soll; die Dadaisten und Surrealisten wollen nicht länger in imaginärer Trennung von materieller Produktion und Reproduktion, politischen Kämpfen und alltäglichen Machtverhältnissen agieren. An Fourier kann man jedoch sehen, dass sich die fragliche Grenze ebenso sehr von der Seite des ›Lebens‹ aus angreifen lässt. Im Einzelnen entwirft er:
a) Ein Gegenprogramm zur ästhetischen Virtualisierung des Begehrens. Ziel der sinnlichen Arrangements in der Phalanx ist keine promesse du bonheur, kein Glücksversprechen, sondern eine Realisierung des Glücks; im Zentrum steht nicht uninteressiertes Wohlgefallen, sondern sinnliche Attraktion und sinnlicher Genuss – nicht umsonst schreibt Fourier besonders viel übers gute Essen. Entsprechend besteht kein abgeschlossener Raum für ›Kunst‹, sondern sie erfüllt Funktionen im Rahmen von Architektur, Kultus, Konsumtion, Erziehung und körperlicher Liebe.
b) Eine Aussetzung des Realitätsprinzips. Umgekehrt herrscht aber auch kein ›Ernst des Lebens‹ jenseits der sinnlich-ästhetischen Glückssuche. Die kognitive Realitätsprüfung wird – trotz gelegentlicher ökonomischer Kalkulationen oder selbst darin – weitgehend verweigert, in Fouriers Theorie und der von ihm konzipierten Praxis scheinen vor allem Wünsche in der Welt zu orientieren. Auch daraus erklären sich Motive wie die Polarkrone, die Antiratte und die bevorstehenden 40.000 Jahre Glück.
c) Eine pleromatische Konzeption des durchgängig erfüllten Hier und Jetzt. Dass jedes Begehren sein Ziel findet, heißt auch: es bleibt keine Lücke, kein Abstand von Zeit oder Unsicherheit zwischen Wunsch und Erfüllung, stattdessen herrscht die unmittelbare und ständige Präsenz des Erwünschten. Man kann in verschiedenen Registern hinzufügen: kein Triebaufschub, keine zivilisatorische Versagung, kein Jenseits. Maurice Blanchot hat kritisch bemerkt, dass Fourier eigentlich unerotisch ist, weil er so das Begehren selbst gefährdet. Mit einem an Derrida geschulten Blick für Erfüllungsprobleme kann man aber zumindest auch vermuten, dass in Fouriers Texten die Fülle zur Überfülle wird, die vielleicht eine spannende Unbestimmtheit aufrecht erhält, in jedem Fall aber eine Schließung des utopischen Systems verhindert.
d) Eine uneigentliche Lebenspraxis im Zeichen von Ritual und Spiel. Weiterhin hat Fourier mindestens einen systematischen Ort für Lücken. Die quasi-rituelle Ordnung, die er in seinen geometrisch organisierten Leidenschaftsserien vorsieht, lässt sich als Virtualisierung des gesamten sozialen Lebens begreifen: In der Produktion dominieren Wettkämpfe statt Wettbewerb, die Ehe wird in Favoritenranglisten und polygame Quadrillen aufgelöst, die Religion pragmatisch eingebunden und durch immer neue Priesterämter oder Götterrollen an die verschiedensten sozialen Orte verbreitet; Geld macht bei Fourier glücklich, Herrschaft und militärische Gewalt treten fast nur als Symbolordnungen auf. Je weiter man in seine Texte vordringt, desto unwahrscheinlichere Rituale fallen auf; so wird die symbolische Kontrolle von Sprache und Literatur an der »Akademie« präpubertären Mädchenbanden übertragen, die schließlich am meisten Feingefühl in derartigen Dingen äußern. In der Reihe der traditionell nicht ritualarmen Utopien stellt Fourier definitiv eine neue Qualität dar.
Man kann die Realisierbarkeit eines derart gegen das Realitätsprinzip gerichteten Entwurfs bezweifeln, und man kann fragen, ob die geschilderte Synthese von ›Leben‹ und Kunst wünschenswert ist. Vorher sollte man jedoch einen ganz anderen möglichen Einwand bedenken: Eine Reihe von Motiven in den zuvor dargestellten Lektüren deutet darauf hin, dass Fourier mittlerweile von der Marktzivilisation, die er bekämpft hat, realisiert worden ist – in der kapitalistischen Massenkultur.
Einen Hinweis auf massenkulturelle Strukturen bei Fourier kann man zunächst seiner eigenen Schreibweise entnehmen. Passagen wie die folgende klingen deutlich nach Science Fiction; sie teilen mit der entsprechenden Ästhetik sowohl eine Technik simpler Steigerung als auch eine Didaktik der Botschaft: » Wenn er (Gott) für Zwang optiert hätte, wäre es ihm ein leichtes gewesen, sehr viel mächtigere Polizeischergen als die unseren zu schaffen, amphibische Giganten von zehn Fuß Höhe, schuppig, unverletzlich und in unsere militärische Kunst eingeweiht. Sie wären unvermutet aus den Meeren gestiegen, hätten unsere Häfen, unsere Geschwader, unsere Armeen zerstört und im Handumdrehen die aufsässigen Reiche gezwungen, der Philosophie abzuschwören, um den göttlichen Gesetzen der Attraktion zu folgen. Wenn Gott darauf verzichtet hat, sich mit solchen Giganten zu versehen, die ebenso leicht zu schaffen wären wie die großen Wale, so muss man daraus schließen, dass er nur die Attraktion im Sinn hatte «.12
Will man systematischer sehen, wie solche Ähnlichkeiten zu deuten sind, kann man sich am Titel einer neueren Sammlung von Texten Fouriers orientieren, die ihn als »Philosophen der Kleinanzeige« einführt.13 Tatsächlich erinnern etwa Partnerschaftsspalten von Stadtmagazinen unmittelbar an passionelle Serien: jede Teddybärfetischistin mit Vorliebe für surrealistische Dichtung findet dort ihren Kunsttheoretiker mit dem Wunsch, gestreichelt zu werden – oder kann immerhin darauf hoffen. Blättert man weiter zu den Tourismusseiten oder sucht sie im Internet auf, zieht die Reiseangebote großer Zeitungen hinzu usw., kommt man rasch darauf, dass die gegenwärtige Kultur- und Freizeitindustrie nicht zuletzt eines ist: eine diversifizierte, auf beinahe jedes denkbare Begehren eingestellte Wunscherfüllungsmaschine. Spätestens heute sollte man daher den ordinatore dei desideri im Titel von einem der Fourier-Aufsätze Calvinos mit »Computer der Wünsche und Begehren« übersetzen, und spätestens seit Parship scheint es wirklich massenkulturelle Maschinen serieller Leidenschaftskombination zu geben.14
Es bleibt die Frage, wer sich das Angebot leisten kann und ob man tatsächlich alle Wünsche in der Gestalt von dafür gemachten Produkten und Dienstleistungen erfüllt bekommen will. Dass auch die passgenausten Zuordnungen dieser Art einen unerfüllten Rest lassen werden, legen (neben Langfristproblemen von Parship-Paaren) Walter Benjamins oben umrissene Überlegungen nahe. Sofern eine Beziehung zwischen Fouriers Erfüllungsutopie und der Warenästhetik als Fantasmagorie kollektiver Wünsche besteht, äußert sie sich sicher darin, dass in Wunschbildern immer auch Unbewältigtes, Unaussprechbares und Unausgegorenes zum Ausdruck kommt – umso verlässlicher, je stärker massenhafte Attraktion benötigt wird und die Bilder auch versprechen müssen, was sie nicht halten können. Benjamins Zugriff hat den Vorteil, die Überlagerung von solchen funktionalen Erfordernissen, utopischen Anteilen und Bestätigungsbedürfnissen in der organisierten ästhetischen Praxis begreiflich zu machen. Für Fourier trifft dies nur bedingt zu, weil hier ein Einzelgänger mit erstaunlich schwacher Wunschzensur seine Welt entwirft, aber die Fragwürdigkeit von Limonadenmeeren und tagesfüllenden Spaßprogrammen lässt vermuten, dass auch bei ihm Ambivalenzen zu deuten sind. Sollte Benjamin Recht haben und das Schlaraffenland ein Kernelement des kollektiven Imaginären im 19. Jahrhundert bilden, würde Fouriers Besonderheit vor allem in Pointierung bestehen.
Die beiden umrissenen Deutungsansätze müssen einander nicht ausschließen. Im Gegenteil: Fouriers Werk bietet eine Chance, das avantgardistische Interesse an massenkulturellen Gütern und Mechanismen zu verstehen. Um einen Ausgangspunkt zu gewinnen, muss man nur der Ambivalenz seiner Erfüllungsutopie weiter nachgehen.
Das verlangt zunächst auszuführen, was bereits mehrfach angedeutet wurde: dass das pleromatische Glück klaustrophobische Züge hat. Es verhindert nicht nur Begehren im starken Sinn, sondern Distanznahme zur sozialen Welt überhaupt. Zwar kann man bei Fourier morgens fischen, mittags das Feld bestellen, abends dinieren, charmieren und kritisieren – aber in strikter Organisation des Tagesablaufs und ständiger Abstimmung mit anderen. Was fehlt, sind Zwischenräume, in denen man Wünsche für sich behalten könnte, etwas wollen, ohne gleich auf Erfüllungsofferten zu stoßen, Tätigkeiten durchführen, die nötig scheinen, aber nicht unmittelbar mit Genuss verbunden sind. Selbst für Pech und Misserfolge (die Fourier immerhin einräumt) ist als direkte Entschädigung ein Tag vorgesehen, an dem dafür gesorgt wird, dass alles gelingt. Insgesamt erinnert die Gesellschaft der vollendeten Harmonie vor allem an die Breimauer vom Schlaraffenland, sozial interpretiert als Dauerbespaßung. Es fällt nicht schwer, dieses Unbehagen in Analysen kapitalistischer Massenkultur zu übersetzen – denn was verkauft werden oder zum Kauf anregen soll, muss ja fast zwangsläufig mit dem Versprechen und der Erfahrung unmittelbarer Beglückung arbeiten, möglichst eng angepasst an gegebene Begehrenslagen, ohne Rücksicht auf deren mögliche Entwicklung. Das ist einer der systematischen Gründe dafür, dass Adorno die Kulturindustrie als System vollständiger Eingliederung beschrieben hat.
Eine zweite, verwandte Erwägung ergibt sich aus der zu Beginn angesprochenen Frage, wer eigentlich die allseitige Erfüllung organisiert. Auch wenn es Anteile dezentraler Wahl gibt, der Organisator oder Anordner im Ungewissen bleibt und unendlich wohlwollend sein mag – die präzise Verschaltung der Leidenschaften hat selbst rücksichtslos verfügende Züge. Sie macht intime Impulse zum Konstruktionsmaterial. In diesem Sinn hat Benjamin Fourier auf De Sade bezogen: »Die Verwandtschaft zwischen Fourier und Sade besteht im konstruktiven Moment, das jedem Sadismus eigen ist. […] Der Sadist könnte bei seinen Versuchen auf einen Partner stoßen, der genau diejenigen Peinigungen und Demütigungen ersehnt, die sein Peiniger ihm auferlegt. Mit einem Schlage stünde er mitten in einer der Harmonien, denen die Utopie Fouriers nachgeht.«15 Etwas anders und mit Bezug auf kapitalistische Massenkultur formuliert: Das vollständig befriedigte, weil anhand seiner genau analysierten Leidenschaften optimal vergesellschaftete Subjekt ist zugleich reines Objekt verfügender Kalkulation.
Man muss weder diese totalitären Aspekte noch die zuvor betonten Befreiungsperspektiven absolut setzen – zumal sich rasch die Frage stellt, was für beides der Maßstab sein kann, wenn man in jedem utopischen Fernziel die kulturellen Horizonte der bestehenden Sozialordnung wieder findet. Aber man kann mithilfe solcher Extrembilder experimentell an die Grenzen dessen gehen, was kulturell erlaubt und vorstellbar ist. Meine abschließende These ist, dass die Avantgarden eben dies tun und dafür bei Fourier eine Blaupause finden.
Vorausgesetzt ist dabei, dass Massenkultur eine realisierte Verbindung von ›Kunst‹ und ›Leben‹ darstellt, an der weitergehende Versuche, das letztere ästhetisch zu durchdringen, kaum noch vorbeikommen. Die Dadaisten, Surrealisten, Situationisten und Pop-Künstler haben die Grenzen der Kunst nicht zuletzt durch den Einsatz von Zeitungsausschnitten, Illustrationen, Comics und Warenverpackungen aufgebrochen. Zugleich geben sie damit eine Möglichkeit ästhetischer Distanzierung auf, die in den Sozialutopien des 19. Jahrhunderts nie zur Debatte stand. Historisch könnte man sagen: Fourier antizipiert die Erfüllungslogik der Massenkultur, die Avantgarden markieren den Punkt, an dem sie virtuell unausweichlich wird. Statt einem Sonderbereich von Kunst (und als extreme Selbstnegation ihrer Autonomie) ist jetzt die kapitalistisch geprägte Massenkultur das einzige Medium, in dem sich ästhetisch arbeiten lässt.
Die kritische Funktion der Avantgarden kann dann aber nicht länger darin bestehen, sowieso übertriebene Wunschbilder weiter zu steigern bzw. allen äußeren und inneren Zensurinstanzen zu entziehen. Vielmehr müssen sie, wenn sie politisch-soziale Gegenpositionen gewinnen wollen, auch dort ansetzen, wo die ästhetisch-vitale Normalität als Katastrophe und Hölle erscheint. Damit rückt die Ambivalenz und Deformiertheit kollektiver Wünsche ins Zentrum, wie sie Benjamin mithilfe der surrealistischen Kunst beleuchtet hat. Konsequenzen hieraus zieht nicht allein eine revolutionäre Entzifferung kommerzieller Kultur, sondern auch die ästhetische oder theoretische Frage danach, was an kollektiven Träumen Albtraum ist. Jede Epoche schreibt ihren Befreiungsimpulsen auch ihre Zwangsvorstellungen ein, die unerfüllten Wünsche von gestern werden zum Kulturmüll von heute, im als ultimativ begehrenswert Ausgestellten lässt sich erkennen, was man unbedingt loswerden muss.
Die avantgardistische Praxis kann vor diesem Hintergrund nicht darin bestehen, die Utopie zu leben; sie kann aber das ästhetisierte Leben zum Organ machen, in dem ihre Wünschbarkeit ausprobiert und ihre Zwanghaftigkeit eklatant wird – mehr oder weniger existenziell, in Warhols Factory wie in der Fresenhagener Landkommune, bei den Hippies wie bei den Punks, selbst in lebensnahen Medien der Massenkultur wie Romanen und Fernsehserien. Vielleicht lösen sich damit die Avantgarden wie auch die Utopie auf. Aber dann wird man an ihnen andere Weisen erlernt haben, die Wünsche über das hinaus zu treiben, was als erfüllbar gilt.