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Zur Sache
Die Sicherheitsnadel als Gegen-, Wider- und Umstand

Jan C. Watzlawik

»Ein Gegenstand erwächst aus der Vereinigung von Gegenwehr und Widerstand. Sie sollten vorsichtig sein.«1

I. DER GEGENSTAND

Wenn die Online-Ausgabe der »Financial Times Deutschland« die Sicherheitsnadel thematisiert, so ist zu vermuten, dass von steigenden Rohstoffpreisen, stagnierenden Märkten oder ›der globalen Krise‹ die Rede sein wird. Doch weit gefehlt: »Das will ich auch! Die Sicherheitsnadel von Graf von Faber-Castell«.2 Der so betitelte Artikel ist in der Rubrik »Lifestyle« zu finden und wird dementsprechend fokussiert:

Gucken Sie mal genau hin. Dann sehen Sie nämlich die Sicherheitsnadel, mit der des Grafen Kragen festgesteckt ist. Sicherheitsnadel, Alter! Das ist subversiv – zumindest ein bisschen: Modefachkreisen ist die Kragennadel längst ein Begriff. Doch bis auch der Pöbel sie kennt, adelt die Nadel weiter mit dem herben Duft des Rock‘n‘Roll.«3

Die Autorin meint dieses deuten zu müssen: »Während Andere in ihrer Jugend rebellieren und im Alter spießig werden, dreht der Graf mit 69 Jahren richtig auf und trägt punkige Accessoires.«4 Dazu werden Preis und mögliche Bezugsquelle genannt. Der stupid-reißerische Duktus dieser Ausführungen lässt an ihrem Gehalt zweifeln. Doch wird auch auf die paradox erscheinende Gleichzeitigkeit vermeintlich hegemonialer und gegenkultureller Bedeutungen des Alltagsgegenstandes Sicherheitsnadel verwiesen. Eine Annäherung an diesen Spannungsbogen der Bedeutsamkeit ist über die Analyse materieller Kultur, welche »die Dinge als Türöffner für die Dechiffrierung historischen wie gegenwärtigen Alltagslebens«5 nutzt, möglich. Eine Betrachtung und Kontextualisierung der Gegenständlichkeit sowie Widerständigkeit der Sicherheitsnadel in Kunst, Mode und im Alltag soll somit dazu genutzt werden, Aussagen über gesellschaftliche Umstände zu treffen: »Die Erforschung der Dinge ist daher Kulturanalyse.«6

Historisch lässt sich die Sicherheitsnadel zwar bis zu den Gewandfibeln der Bronzezeit zurückverfolgen und in zahlreichen Kulturen finden, doch kann man sie auch als typisches Produkt der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, dem »Saeculum der Dinge«7 , bezeichnen. Es waren vor allem die Patente von Thomas Woodward (1842) und Walter Hunt (1849)8 sowie die Entwicklung einer Maschine zur seriellen Herstellung durch Eli Manville (1864)9 , die als Marksteine der Massenfabrikation zu einer weltweiten Verbreitung und Verfügbarkeit führten. Heute stellt allein »Prym Consumer Europe«, »nach eigenen Angaben weltweit grösster Hersteller von Sicherheitsnadeln«10 , jährlich geschätzte 830.400.000 Stück her.11

Für Deutschland regelt die heute noch gültige Fassung der DIN-Norm 7404 vom Juli 1971 formale und materielle Standards.12 Die dort genannten Empfehlungen geben jedoch nur einen kleinen Teil der tatsächlichen Vielfalt wieder. Die Produktkataloge dreier großer Hersteller zeigen ein umfangreicheres Bild: Sicherheitsnadeln mit Spirale und ohne Spiralschutz, mit doppelter Sperre, gerade und gebogen, zwischen 19 und 135 mm lang, mit Kugel, zaponiert, mit Vierlochplättchen, mit Krampen, rechts öffnend, ohne Prägung, mit 1-fach oder 2-fach Prägung (Ziffern und/oder Buchstaben), in Messing, Stahl oder Eisen, goldfarben, silberfarben, schwarz, hellblau, rosa, weiß, bunt, rostfrei, rostgeschützt, nickelfrei sowie »garantiert korrosionsbeständig«.13 Der Gestaltungsspielraum der Nadeln ist demzufolge groß, doch eint sie alle ihre Funktion des Schutzes: Die Nadel liegt verborgen und kann somit nicht verletzen.14 Daher kommt sie dort zum Einsatz, wo diese mögliche Gefahr gebannt werden soll. Als körpernahes, »universelles Ersatzteil springt sie klammernd, heftend, haltend ein, wo das Original verlorenging«.15 Allein die Menge und Variabilität machen aus dem durchsetzungsstarken Zivilisationsprodukt eine beständige Kulturware, die paradoxerweise im Alltag oftmals unbeachtet oder gar, »sofern sie in Funktion begriffen ist, unsichtbar bleibt.«16

II. DER WIDERSTAND

Die Sicherheitsnadel erfährt erst größere Aufmerksamkeit, wenn sie ihrem originären Gebrauchszusammenhang enthoben und ihre Widerständigkeit betont wird. Dass dies Vorgehen vor allem dem Punk zugerechnet wird, ist ebenso stereotyp wie nachvollziehbar. Er fungierte als Agent der Sichtbarkeit, negierte und bestätigte zugleich ihren Alltag. So wird einem der schillerndsten Vertreter der ersten Generation des Punk unterstellt, die »Sicherheitsnadel als Mode-Accessoir [sic]«17 eingeführt und somit die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt zu haben: Johnny Rotten (John Joseph Lydon), der Sänger der britischen Punkband »Sex Pistols«, soll der Erinnerung seiner Eltern nach einen, von ihnen neu gekauften Anzug, zuerst mit einer Schere in Fetzen zerschnitten und daraufhin mit Sicherheitsnadeln wieder zusammengesteckt haben.18

Eine ähnliche Begebenheit wird aber auch über den US-Amerikaner Richard Hell (Richard Myers) berichtet:

»So viel ich weiß, kam diese Art der Befestigung zu Stande, als ein Mädchen sich über ihn ärgerte und ihm wütend die Klamotten vom Leib riss. Da Richard an diesem Abend ausgehen wollte, steckte er alles mit einem Haufen Sicherheitsnadeln zusammen.«19

An jenem Abend soll der umstrittene Künstler, Modedesigner und »Sex Pistols«-Manager Malcolm McLaren (Malcolm Edwards) auf Hell getroffen sein, sich für seinen Stil begeistert und ihn dann als Sänger für seine Band gewinnen wollen haben.20 Diese Geschichten dürften, dafür spricht auch ihre gegenseitige Ausschließbarkeit, wohl eher der Mythosbildung zuzurechnen sein. Doch verweisen sie auf die transnationale, -atlantische und -kulturelle Entstehung, Ausbreitung sowie Vernetzung des Punk. Als höchst heterogenes Phänomen entsprang er »ebensosehr dem Avantgardismus der Kunsthochschulen wie den Tanzschuppen und Wohnghettos«21 , vereinte somit differente und divergente ästhetische, stilistische sowie gegenkulturelle Einflüsse.

Die (Um-)Nutzung vorgefundener Waren lässt sich auf das dadaistische Ready-made und surrealistische Objet trouvé zurückverfolgen. Kongruent zu Marcel Duchamp, der sein letztes Bild »Tu m´«22 aus dem Jahre 1918 mit drei realen Sicherheitsnadeln versah, um damit einen retinal gemalten Riss zusammenzuhalten, kann man das Vorgehen der beiden exponierten Vertreter des Punk sehen. Die Sicherheitsnadeln dienen hier weniger der Sicherung als vielmehr der Verunsicherung. Der inhärente, »destruktive Charakter«23 des symbolisch-ikonoklastischen Aktes entpuppt sich als kreatives und konstruktives Moment der Bedeutungsaufladung. Ulf Poschardt interpretiert dahingehend die Geschichte Rottens als Beispiel symbolischer Aneignung:

»Er machte es zu seiner Sache. Auf wundersame Weise konnte er durch den Akt der Aggression Aggressivität kommunizieren und gleichzeitig seinem Willen zur Schöpfung – zum pathetischen Ja des Künstlers – Gestalt verleihen. Er zerstörte und schuf dabei – und installierte so die zentrale Grundhaltung des Punk, der mit ihm seinen großen Durchbruch erleben sollte.«24

Wird in diesen Beispielen noch auf die zusammenhaltende Funktion der Sicherheitsnadel rekurriert, so findet sie sich die Sache aber auch »von der Last befreit, bloß nützlich zu sein.«25 Nicht nur körpernah, sondern körpereinbeziehend zog die Nadel ein Mehr an Aufmerksamkeit auf sich: »Die Punks wollten Abscheu erregen – was ihnen mit dieser damals noch völlig unverständlichen Technik der Durchstoßung eines sensiblen Weichteils an sich selbst und ohne jegliche Betäubung auch gelang.«26 Das Piercing, ursprünglich Körperschmuck verschiedener autochthoner Kulturen, wurde zwar bereits in – meist marginalisierten – Szenen praktiziert. Punk provozierte aber vor allem durch die Verwendung von Alltagsgegenständen – wie der Sicherheitsnadel – die Ohren, Nasen und Münder schmückten. Erich Kasten will feststellen, dass diese Praxis »inzwischen wieder in die Ursprungsländer des traditionellen Körperschmucks zurück[kehrt]«.27 Die Annahme eines gegenkulturellen Exports hat aber keinen Bestand. Vielmehr zeigt es sich, dass die subversive Nutzung der Sicherheitsnadel ihren Ursprung nicht in Europa oder US-Amerika haben dürfte: So weisen bereits Fotografien der Massai aus den 1930er Jahren28 aber auch aus der Zeit der Entstehung des Punk – wie etwa die Fotostrecken »God´s Ears« (1971) von Pete Turner29 und »Die Nuba von Kau«30 (1976) von Leni Riefenstahl – die Nadel als Teil des Körperschmucks auf.

Vor allem aber das Bild einer durchstochenen Lippe scheint wirkmächtig gewesen zu sein. So gestaltete Jamie Reid, situationistisch politisierter und ästhetisierter Künstler, 1977 einen Werbeflyer für die Single »God save the Queen« von den »Sex Pistols«. Darauf befindet sich ein Porträt der britischen Königin Elisabeth II. mit durch die Lippen applizierter Sicherheitsnadel. Zusammen mit dem fröhlichen Regentinnenblick wirkt der schriftliche Kommentar »She ain´t no human being« so verstörend wie das Piercing selbst. Greil Marcus weist in seinem vielbeachteten Buch »Lipstick Traces«, das sich dem Punk und seiner Verwandtschaft zu avantgardistischen Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts widmet, auf eine Inspirationsquelle für dieses Blatt hin. Marcus macht als Vorlage ein Plakat des Pariser Studierendenkollektivs »Atelier populaire« der »Ecole National des Beaux-Arts« von 1968 aus. Unter dem Text »une jeunesse que l´avenir inquiète trop souvent« (»Eine zu oft von der Zukunft beunruhigte Jugend«) zeigt sich »eine junge Frau, den Kopf mit Verbandmull umwickelt und die Lippen von einer Sicherheitsnadel durchbohrt.«31 Der Verweis auf den Verwendungszusammenhang der Sicherheitsnadel bei Wundverbänden32 in Verbindung mit einem, vom Schmerz gekennzeichneten Blick, verbildlicht verstörend die Verletztheit und Sprachlosigkeit einer Jugend im Auf- und Widerstand.

Als »Zeichen äußerster Verletzbarkeit«33 verweist die Sicherheitsnadel im Punk aber nicht nur auf die Verletzung als Zustand, sondern auf das Selbstverletzen als eigenverantwortlichen Prozess. Dieser Eingriff stellt nicht nur eine individuelle Tat dar. »Vielmehr sind Entscheidungen über den eigenen Körper als Entscheidungen über das Selbst hochgradig normativ, sie sind getränkt von Sozialität.«34 Die radikale Form des Körperschmucks ist somit auch als Initiationsritus einer Gemeinschaft zu sehen.35

Es zeigt sich, dass eine subversive Ding- ebenso zur identitätsstiftenden Selbst- sowie Weltaneignung führen kann. Dieses liegt darin begründet, dass mit vertrauten Alltagssachen gehandelt wird.36 Die »vorhandenen Objekte, Symbole und Aktivitäten wurden aus ihrem normalen sozialen Kontext herausgelöst, eines Teils oder aller ihrer konventionellen Konnotationen entkleidet.«37 Zugleich wurden sie aber mit neuen, oppositionellen Bedeutungen belegt. Nach Michel de Certeau kann dieses Vorgehen als eine »Kunst des Handelns« ausgemacht werden, die sowohl den Konsum von Waren und zugleich eine damit einhergehende »andere Produktion« beschreibt. Diese »äußert sich nicht durch eigene Produkte, sondern in der Umgangsweise mit den Produkten, die von der herrschenden ökonomischen Ordnung aufgezwungen werden.«38 Gisela Welz bestärkt diesen Ansatz:

»Konsumenten werden nun als kulturelle Akteure begriffen, die keineswegs konform und passiv, sondern vielmehr selbstbestimmt die Angebote der Warenwelt aufgreifen, mit ihnen eigensinnig umgehen, in diesem Umgang immer neue kulturelle Bedeutungen kreieren und damit die Vervielfältigung von Lebensstilen vorantreiben.«39

Die Kulturwaren werden nicht nur gekauft, sondern aktiv genutzt oder gar umgedeutet. Provokations- und Protestinhalte dienen dabei der Infragestellung von hegemonialer Kultur, angelehnt an das situationistische Détournement.40 Daher sind es nicht nur Produkte, die konsumiert werden, sondern ebenso Konzepte, Strategien und Taktiken ästhetischer und aktivistischer Vorläufer, die eine Annäherung sowie Revolutionierung von Alltag und Kunst forderten und förderten. Die konkrete Negation der originären Bedeutungen der Sicherheitsnadel beinhaltet eine abstrahierte Hinterfragung von Gesellschaft und Kultur, bestätigt und reproduziert diese aber im selben Maße.

III. DER UMSTAND

Die Aufmerksamkeitslenkung und Bedeutungsbelegung durch den Punk macht die Attribuierung der Sicherheitsnadel von Herrn von Faber-Castell als »punkig« und »subversiv« verständlich. Diese sind aber nichts Neues, sondern finden sich im Bezug auf eine Vielzahl von Schmuck- und Kleidungsstücken in Folge der Entstehung des Punk: Die Modedesignerin Zandra Rhodes stellte bereits 1983 die Frage nach der Wertigkeit von Alltagsgegenständen und plädierte dafür, dass auch eine einfache Sicherheitsnadel als so wertvoll wie eine Perle erachtet werden solle.41 So fertigte sie unter anderem Schmuckstücke aus Sicherheitsnadeln und Perlen an, konfrontierte die verschiedenen Materialien und Bedeutungen sowie ihre pekuniäre Wertigkeit. Auch Gianni Versace rekurrierte auf den Punk, als er 1995 die offenen Seitennähte eines Kleides mit Sicherheitsnadeln verband. Seitdem kann man eine zyklische Inflation der Nadel in der Mode beobachten, die in den letzten Jahren ihren Höhepunkt erreichte. So in den Kollektionen von Alexander McQueen und »Viktor & Rolf« 2008, »Versus« sowie »Vena Cava« 2010.

Wird Punk als Ausgangspunkt der Verwendung der Sicherheitsnadel gesehen, so verleitet dies dazu, diesbezüglich von einem »bubble up«-Phänomen zu sprechen. Darunter versteht Ted Polhemus eine Verbreitung stilistischer Neuerungen »from sidewalk to catwalk«42 . Dieser alltagskulturelle Einfluss auf die Mode wird seitens konsumkritischer Vertreter als rekuperative Vereinnahmung durch die Hegemonie gelesen. Dabei wird aber davon ausgegangen, dass die subversiven Inhalte nur in abgeschwächter Form angenommen werden:

»Erstaunlich ist, wie schnell das den Punks verhasste Establishment auch diesen Protest einfach aufsog und inzwischen hochglanzpolierten Modeschmuck für Piercingzwecke aus garantiert allergiefreien Metallen kommerziell anbietet.«43

Doch handelt es sich hierbei mitnichten um etwas originär Neues einer vermeintlichen Straßenkultur. Ebenso wie die Sicherheitsnadel bereits vor den Punks – so zum Beispiel in der Kunst – subversiv genutzt wurde, kam sie auch in der Mode zum Einsatz. Als Verschluss, Applikation und Schmuckstück finden sich die Nadeln das gesamte 20. Jahrhundert über: Um 1900 kam die Kragennadel auf. Um »ein korrektes Erscheinungsbild abzugeben, steckte man sich vereinzelt eine Nadel durch die Kragenschenkel, sodass der Kragen schön zusammengehalten wurde, und die Krawatte leicht empor gehoben wurde.«44 In der Damenmode lassen sich Beispiele der Sicherheitsnadel anstatt von Knöpfen an Kleidungsstücken finden. So in den 1920ern als Dekolleté-Abschluss45 und in den 1960ern als Eyecatcher an der Knopfleiste.46 Auch die von Rhodes entwickelten Broschen finden bereits in dieser Zeit ihre Entsprechung. Als prominentestes Beispiel ist Andy Warhol auszumachen, der am Revers seiner Lederjacke ein Schmuckstück aus mehreren Sicherheitsnadeln trug.47

Punk etablierte gekonnt ein Spiel der Dekontextualisierung und Rekontextualisierung von Alltagsdingen sowie der Decodierung und Recodierung ihrer Bedeutungen. Dabei wirkte er als Katalysator der Vorgänger aus Kunst und Mode, nahm deren Impulse auf, eignete sie sich an und sorgte damit für Aufmerksamkeit. Der scheinbar widerständische Akt der Destruktion von Dingen und Subversion von Sachen führte aber nicht zur Bloßlegung oder gar Vernichtung hegemonialer Codes. Vielmehr kam es zu Bedeutungserweiterungen, die sich nicht nur auf den Dingen selbst, sondern auch in der Gesellschaft setzen konnten: »Seine Respektlosigkeit wirkte beflügelnd, aber nicht zersetzend auf die Kulturindustrie.«48 Da die Sicherheitsnadel nicht nur als Ware konsumiert, sondern aktiv und kreativ mit ihr agiert wurde, ist sie – nach de Certeau – auch ein Produkt der Konsumenten selbst. Dieses Produkt wiederum unterliegt ebenfalls den Marktmechanismen:

»Viele der stilistischen Neuerer in der Punk-Mode hatten am Marktgeschehen ein handfestes Interesse. Tatsächlich waren in den Jugend-Subkulturen der Nachkriegszeit junge Leute stets direkt an der Herstellung und am Verkauf von Kleidung beteiligt. Eine komplette Infrastruktur von unternehmerischer Aktivität hat die großen Jugend-Stil-Ausbrüche nach dem Krieg begleitet und vielen der daran Beteiligten berufliche Karrieren beschert.«49

Was sie schufen, kann nicht als Marktalternative, sondern als Alternative innerhalb des Marktes gesehen werden. Die Gegnerschaft zur Hegemonie, die auf dem Feld des Vestimentären zum Ausdruck kommt, bewegt sich dabei zwischen den beiden, von Georg Simmel für die Mode im Allgemeinen festgestellten, Polen der Differenzierung und sozialen Anlehnung.50 Opposition zur Gesellschaft wirkt als Emanzipation in der Gesellschaft. So bediente sich Punk nicht nur an den Avantgarden, sondern wurde selbst zu einer. Diese ist jedoch nicht als Exklusivität zu sehen, sondern als basaler Bestandteil einer Massenkultur. Die Avantgarde führt nicht an, sondern wird von der Menge vor sich her geschoben.51 Das destruktiv-subversive Moment wird so gleichzeitig zu einem konstruktiv-konversiven, »die alte Kritik der Massenkultur gebärdet sich nun als Massenkultur, zumindest als vielgestaltige Möchtgern-Massenkultur [sic].«52

Die Kontextualisierungen der Sicherheitsnadel zeigen ihre Bedeutungserweiterungen durch subversiven Gebrauch auf. Punk nimmt dabei als Agent der Sichtbarkeit eine besondere Stellung ein. Er verweist auf die Paradoxa der Gleichzeitigkeit von Konsum und Produktion sowie der Abhängigkeit von Gegenkultur und Hegemonie. Es zeigt sich, dass sie einander bedingen. Der Umgang mit Alltagssachen ist kein passiver, sondern ein kreativer Akt. Die Oppositionshaltung wirkt auch bestärkend auf die Gesellschaft. Daher scheint Widerstand zwecklos. Doch dient er der Durchsetzung in und Teilhabe an der Gesellschaft, als »Beitrag zur Realisierung einer qualitativ neuen Lebensweise.«53 Die Parole des »no future« ist in diesem Sinne nicht als kollektiver Abgesang, sondern als selbstgestaltender und integrativer Zukunftsentwurf zu verstehen.

Fußnoten

  1. Juli Zeh: Spieltrieb. Frankfurt am Main 2006, S. 545. Im Folgenden werden die Begriffe „Sache“, „Ding“ und „Gegenstand“ kongruent genutzt und als Materialisationen von Kultur verstanden. Zu den Begrifflichkeiten s. u.a.: Hermann Bausinger: Ding und Bedeutung. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 107 (2004), S. 193-210.
  2. Anna Lu: Das will ich auch! Die Sicherheitsnadel von Graf von Faber-Castell. In: FTD.de vom 17.09.2010. Online-Dokument: http://www.ftd.de/lifestyle/luxus/:das-will-ich-auch-die-sicherheitsnadel-von-graf-von-faber-castell/50170935.html (Zugriff: 06.12.2010).
  3. Ebd.
  4. Ebd.
  5. Gudrun M. König: Auf dem Rücken der Dinge. Materielle Kultur und Kulturwissenschaft. In: Kaspar Maase/Bernd Jürgen Warneken (Hg.): Unterwelten der Kultur. Themen und Theorien der volkskundlichen Kulturwissenschaft. Köln u.a. 2003, S. 95-118, hier S. 97.
  6. Gudrun M. König: Stacheldraht: Die Analyse materieller Kultur und das Prinzip der Dingbedeutsamkeit. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 4 (2004), S. 50-72, hier S. 55.
  7. Hartmut Böhme: Fetischismus im 19. Jahrhundert. Wissenschaftshistorische Analysen zur Karriere eines Konzepts. In: Jürgen Barkhoff/Gilbert Carr/Roger Paulin (Hg.): Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Festschrift Eda Sagarra. Tübingen 2000, S. 445-467; vgl.: König 2004, S. 50.
  8. Vgl.: Henry Petroski: Messer, Gabel, Reissverschluss. Die Evolution der Gebrauchsgegenstände. Basel/Boston/Berlin 1994, S. 123-125.
  9. http://www.madehow.com/Volume-2/Safety-Pin.html (Zugriff: 06.12.2010).
  10. Ruth Hafen: Ewig praktisches Provisorium. In: bulletin. Das Magazin der Credit Suisse 4 (2004), S. 23.
  11. Schriftliche Auskunft der Prym Consumer Europe GmbH vom 21.10.2010. Der Sicherheitsnadelmarkt scheint stark rückläufig zu sein, da die selbe Firma im Jahr 2004 noch um die 2.000.000.000 Sicherheitsnadeln herstellte; vgl. Hafen 2004, S. 23.
  12. Vgl. Deutsches Institut für Normung: DIN 7404. Deutsche Normen. Berlin/Köln. Juli 1971.
  13. Vgl. Prym Consumer Europe GmbH: Prym-Sortimentkatalog 1 (= Stecknadeln und Sicherheitsnadeln). http://www.prym-consumer.com/prym/proc/docs/0H09003Ck.html?nav=0H090032C, S. 18-27 (Zugriff: 06.12.2010); Josef Heuel GmbH: Sicherheitsnadeln. http://www.heuel-gmbh.de/sicher.htm (Zugriff: 06.12.2010); Universal-Service Müller: Sicherheitsnadeln. http://www.universalservice.info/Nadeln/Sicherheitsnadeln (Zugriff: 06.12.2010).
  14. Petroski 1994, S. 125.
  15. Heiner Boehncke: Die Sicherheitsnadel. In: Ders./Klaus Bergmann (Hg.): Die Galerie der kleinen Dinge. Ein ABC mit 77 kurzen Kulturgeschichten alltäglicher Gegenstände vom Aschenbecher bis zum Zündholz. Zürich 1988, S. 201f., hier S. 201.
  16. Ebd.
  17. Punk: Nadel am Ohr, Klinge am Hals. In: SPIEGEL 4 (1978), S. 140-147, hier S. 144.
  18. Vgl. John Lydon: Johnny Rotten. No Irish, No Blacks, No Dogs. Wien 1995, S. 49; Thomas Lau: Die heiligen Narren. Punk 1976-1986 (= Materiale Soziologie; TB 1). Berlin/New York 1992, S. 93; Ulf Poschardt: Anpassen. Hamburg 1998, S. 259.
  19. Aussage von Bob Gruen. In: Stephen Colegrave/Chris Sullivan (Hg.): Punk. München 2006, S. 78; vgl. Don Letts: Punk:Attitude. USA 2005, DVD 88 Minuten + 136 Minuten Extras. Der Vermutung, dass McLaren die Verwendung der Sicherheitsnadel von Hell abgeguckt haben könnte und seinem ,Schützling‘ Rotten nahebrachte, widerspricht Glen Matlock: „John sah schon immer so aus. Malcolm hatte damit nichts zu tun. John war der Erste, der Sicherheitsnadeln trug.“; Aussage von Glen Matlock. In: Colegrave/Sullivan 2005, S. 98.
  20. Aussage von Gruen 2006, S. 78.
  21. Paul Willis: Jugend-Stile. Zur Ästhetik der gemeinsamen Kultur. Berlin 1991, S. 111.
  22. S. Marcel Duchamp: Tu m´, 1918. Öl auf Leinwand mit Flaschenbürste, drei Sicherheitsnadeln und einem Bolzen, 69,8 × 303 Meter. Yale University Art Gallery, New Hafen/Connecticut, Schenkung Estate of Katherine S. Dreier.
  23. Walter Benjamin: Der destruktive Charakter. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. IV.I: Kleine Prosa/Baudelaire Übertragungen, hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1972-1989, S. 396-398, hier S. 396.
  24. Poschardt 1998, S. 261.
  25. Boehncke 1988, S. 202.
  26. Erich Kasten: Body-Modification. Psychologische und medizinische Aspekte von Piercing, Tattoo, Selbstverletzung und anderen Körperveränderungen. München/Basel 2006, S. 22.
  27. Ebd., S. 22f.
  28. S. u.a. Black Star: Schwarzafrika, Bevölkerung. Massai – Krieger mit Zopf als Zeichen seiner Wuerde (sic) und Schmuck im Ohr, z.Bsp. (sic) einer Sicherheitsnadel, o.J. (1930er Jahre). Fotografie. Ullstein Bild, Bildnummer: 00505455.
  29. S. u.a. Pete Turner: Beaded necklace on Massai woman, close up, o.J. (1970er Jahre). Fotografie. Getty Images – The Image Bank, Bildnummer: 10193928. Die Bilderstrecke „God´s Ears“ erschien 1971 im „Esquire“; vgl. http://peteturner.com/Bio/index.html (Zugriff: 06.12.2010).
  30. S. u.a. Leni Riefenstahl: Die Nuba von Kau (1976). In: Dies.: Die Nuba. (= Lizenzausgabe mit Zusammenfassung der Bände „Die Nuba“ (1973) und „Die Nuba von Kau“ (1976) in einer Ausgabe). Köln 2006; die Abbildung einer Nuba mit einer Sicherheitsnadel als Ohrschmuck findet sich auf S. 259.
  31. Greil Marcus: Lipstick Traces. Von Dada bis Punk. Eine geheime Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Reinbek bei Hamburg 1996, S. 35.
  32. Sicherheitsnadeln waren vorgeschriebener Bestandteil von Erste Hilfe-Kästen nach der, heute nicht mehr gültigen, DIN-Norm 13164.
  33. Ulrich Sonnenschein: Dreck schwimmt oben. Punk gegen alles (I hate Pink Floyd).: In: Peter Kemper/Thoms Langhoff/Ulrich Sonnenschein (Hg.): „alles so schön bunt hier“. Die Geschichte der Popkultur von den Fünfzigern bis heute. Leipzig 1999, S. 177-187, hier S. 181.
  34. Paula-Irene Villa: Einleitung. Wider die Rede vom Äußerlichen. In: Dies. (Hg.): schön normal. Manipulationen am Körper als Technologie des Selbst. Bielefeld 2008, S. 7-19, hier S. 8.
  35. Vgl. Manfred Russo: Moderne Wilde. Mode und Körperbilder der Punks, Skins und Hooligans. In: Gerhard Fröhlich/Ingo Mörth (Hg.): Symbolische Anthropologie der Moderne. Kulturanalysen nach Clifford Geertz. Frankfurt am Main/New York 1998, S. 161-178, hier S. 172; Boehncke 1988, S. 202.
  36. Vgl. Nicola Lepp: Revoluzzer und Randalierer. Ausschnitte aus einer Kleidergeschichte des Protests. In: Amt der Vorarlberger Landesregierung (Hg.): Kleider und Leute. Katalog zur Vorarlberger Landesausstellung vom 11.05.1991 bis 27.10.1991 im Renaissance-Palast Hohenems. Bregenz 1991, S. 256-282, hier S. 279.
  37. Graham Murdock/Robin McCron: Klassenbewußtsein und Generationsbewußtsein. In: John Clarke u.a.: Jugendkultur als Widerstand. Milieus, Rituale, Provokationen, hg. von Axel Honneth u.a. Frankfurt am Main 1979, S. 15-38, hier S. 32.
  38. Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 13.
  39. Gisela Welz: Einkaufen. Ethnographische Skizzen. Eine Einführung. In: Dies. (Hg.): Einkaufen. Ethnographische Skizzen. Konsumentenkulturen in der Region Tübingen. Tübingen 1996, S. 7-15, hier S. 7.
  40. Vgl. Guy-Ernest Debord/Gil J Wolman: Die Entwendung: Eine Gebrauchsanweisung (1956). In: Guy-Ernest Debord (Hg.): Guy Debord präsentiert Potlatch 1954-1957 (= Critica Diabolis; Bd. 98). Berlin 2002, S. 320-331.
  41. Vgl. Rosemary Harden: Punk. In: Münchner Stadtmuseum (Hg.): Anziehungskräfte. Variété de la mode 1786-1986. Katalog zur Ausstellung vom 25.07.1986 bis 06.01.1987 im Münchner Stadtmuseum. München 1986, S. 434-440, hier S. 437.
  42. ed Polhemus: Streetstyle. From sidewalk to catwalk. Katalog zur Ausstellung vom 16.11.1994 bis 19.02.1995 im Victoria and Albert Museum, London. London 1994.
  43. Kasten 2006, S. 22.
  44. http://www.gentlemansgazette.com/de/kragennadel/ (Zugriff: 06.12.2010).
  45. S. u.a. Anonym: Mrs West, widow of famous V.C. opens hat shop in Albermarle Street, 1920. Fotografie. Ullstein Bild – TopFoto, Bildnummer: 80090924.
  46. S. u.a. Evening Standard: Mac Fashion. A woman wearing latest in rain macs – fastened with a safety pin and topped with a matching hat, 1966. Fotografie Getty Images – The Hulton Archive, Bildnummer: 2661972.
  47. Vgl. Rainer Crone: Andy Warhol. Hamburg 1970, S. 17; Glenn O‘Brien: Punk ist New York, New York ist Punk. In: Kunsthalle Wien/Gerald Matt/Thomas Mießgang: Punk. No One is Innocent. Kunst – Stil – Revolte. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Kunsthalle Wien, 16. Mai 2008 – 07. September 2008. Nürnberg 2008, S. 94-99, hier S. 96.
  48. Ronald Galenza: Zwischen ‚Plan’ und ‚Planlos’. Punk in Deutschland. In: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland/Bundeszentrale für Politische Bildung (Hg.): Rock! Jugend und Musik in Deutschland. Berlin 2005, S. 97-103, hier S. 103.
  49. Willis 1991, S. 111.
  50. Vgl. Georg Simmel: Zur Psychologie der Mode. Sociologische Studie. In: Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst, 5 (1895), S. 22-24, hier S. 23.
  51. Vgl. Willi Bucher/Klaus Pohl: „Lieber lebendig als normal“. In: Deutscher Werkbund e.V./Württembergischer Kunstverein, Stuttgart: Schock und Schöpfung. Jugendästhetik im 20. Jahrhundert, hg. von Willi Bucher und Klaus Pohl. Katalog anlässlich der gleichnamigen Ausstellung. Darmstadt/Neuwied 1986, S. 26- 33.
  52. Marcus 1996, S. 71f.
  53. Hanspeter Kriesi: Neue soziale Bewegungen: Auf der Suche nach ihrem gemeinsamen Nenner. In: Politische VIerteljahresschrift, 3 (1987), S. 315-334, hier S. 326.